Kapitel 3

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Ich stoße die Tür zum Präsidium auf und ein Schwall abgestandener Luft kommt mir entgegen. Ich sage der gelangweilten Sekretärin meinen Namen und mein Belangen, woraufhin sie  mich an einen dicklichen Mann mit Schnauzer, den ich anhand seines Schildchens als " Andrew Orloff " identifizieren kann, weiterleitet. Nach einer gebellten ,militärisch-angehauchten Begrüßung seinerseits und einem zögerlichen Nicken von mir setzen wir uns an einen Tisch,der beinahe von Aktenstapeln  erdrückt wird. Mit bedeutungsvollem Seufzen beginnt er: "Nun...Ich denke, Sie wissen ja, warum Sie hier sind?" "Ähm...nein? "antworte ich. "Oh...ja gut...Kennen Sie eine gewisse Mary Ossietzky ?" Es ist wie ein Schlag vor den Kopf. Sie. Meine Nicht-mehr-beste-Freundin. Wie lange hatte ich sie nicht gesehen? Und vor Allem - warum saß ich wegen ihr auf diesem wackligen Stuhl, wo ich doch auch auf dem Sofa zu Hause liegen könnte, mit Fernbedienung in der Linken und Croissant in der Rechten? Ich nicke jetzt und sehe Orloff fest an. Er räuspert sich und versucht, meinem Blick zu entgehen. "Nun. Wie soll ich sagen...sie...hatte ein paar Probleme.Wir vermuten Depressionen. Unter Anderem. Und wurde vor vier Tagen tot aufgefunden." Ich realisiere es erst nach ein paar Sekunden. Ich blinzle. Ich nicke. Ich schüttle den Kopf. Orloff umfasst meine Schulter und schaut mich mitfühlend an. Oder versucht zumindest, mich mitfühlend anzusehen. Er setzt an:" Kann ich etwas für-"Ich springe auf, stammele etwas von Übelkeit und laufe an der Vorzimmerdame vorbei zum Ausgang, rüttele dümmlich an der Tür, sehe einen "Drücken"-Aufkleber, drücke und stehe draußen.

Eine Windböe lässt meine Tränen die Wangen herunterrollen. Weit entfernt hört man das Rauschen eines Zuges. Ich sehe einer Träne nach, die sich von meiner Wange verabschiedet und auf den Boden fällt und es kommt mir so vor, als würde die Zeit kurz stehenbleiben. Als würde die Welt kurz innehalten, in den wenigen Minuten, die ich neben dem Mülleimer an der Ecke stand und leise weinte.

Ich hatte sie inzwischen gut und gerne 3 oder 4 Jahre nicht mehr gesehen. Doch trotzdem habe ich ein glasklares Bild von ihr vor den Augen. Es war so klar, dass ich mir beinahe einbilde, es würde stechend hinter meiner Netzhaut erscheinen. Und nun sollte sie tot sein? Tot. Nur drei Buchstaben, die alles verändern. Tot. Ein lebloser Körper, starre, offene Augen, die sich nie wieder zu einem kurzen, fast unsichtbaren Blinzeln schließen würden. Kalte, unbewegliche Gliedmaßen, die nie wieder die Wärme der ersten Frühlingssonne nach einem kalten Winter spüren würden. Plötzlich erinnere ich mich plötzlich an meinen Matheunterricht, als ich noch zur Schule ging. Gleichungen. Zwei Dinge, die gleich sein sollten. Mary = tot? Ich schüttele kurz meinen Kopf, wie um den Gedanken zu verscheuchen.

Wie in Trance fahre ich mit der U-Bahn nach Hause,lasse mich , dort angekommen, auf den nächstbesten Stuhl fallen und starre die kahle weiße Wand an. Nie, in unseren über 16 Jahren Freundschaft, hatte sie Depressionen, Selbstverletzung oder Ähnliches in einem Bezug zu sich selbst auch nur erwähnt. Und nun sollte sie sich umgebracht haben? Das ist doch total unlogisch. Sie war einer der fröhlichsten Menschen, die ich kannte! Selbst in unmittelbarer Nähe zu Lateinschulaufgaben war sie damals immer noch voller Motivation und Tatendrang. Ich saß noch da, als es dunkel war, ohne Hunger oder Durst, ohne mich zu regen. Ich sah die Oakleys von nebenan streiten, ohne es wirklich zu sehen. Erst als Brian schimpfend wie ein Rohrspatz hereingestürmt kommt, wache ich aus meiner Versenkung auf. "Ich hab dreimal geklingelt, warum um alles in der Welt machst du nicht auf? Jetzt musste ich den Ersatzschlüssel von der alten Eleanor holen und ihren Mundgeruch ertragen und- Liza, hast du geweint?" Er beendet seine Schimpftirade und sieht mich besorgt an. "Was ist denn?" Ich verknote meine Hände in meinem Schoß, schlage die Augen nieder und fange an, ihm zu berichten.


Flügel der ZeitWo Geschichten leben. Entdecke jetzt