Ungewöhnliche Ereignisse

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Mit einem Hechtsprung versuchte Lina sich außer Reichweite zu bringen – aber zu spät. Die Wasserblase an der Decke folgte einfach ihrer Bewegung, bis sie sich wieder direkt über ihr befand und ein Großteil der Flüssigkeit auf sie herabstürzte. Wütend brummend stapfte Lina zur Spüle und wrang ihr dunkelblaues T-Shirt aus. Was hatte Wasser an der Zimmerdecke zu suchen? Und dann bewegte sich dieses auch noch! Wie war es überhaupt da hochgekommen? Das Haus ihrer Mutter hatte schon einige Eigenheiten zu bieten, angefangen bei verschwindenden Küchenhandtüchern bis hin zu Gegenständen, die die Farbe wechselten. Aber niemals waren die physikalischen Gesetze außer Kraft getreten. Verwundert, aber auch leicht beunruhigt, blickte sie noch einmal hinauf zur Decke und dann in den Topf, den sie vor wenigen Minuten mit Wasser gefüllt hatte. Nur enthielt er keines mehr. Er war vollkommen trocken. Lina sah noch einmal zur Decke, dann drehte sie vorsichtig am Wasserhahn. Wie selbstverständlich flogen die Tropfen an die Küchendecke und gesellten sich zur bereits vorhandenen Pfütze.
„Irgendwann drehe ich hier noch einmal durch", murmelte Lina. „Warum kann es hier nicht einmal normal zu gehen wie bei allen anderen Menschen auch?!" Frustriert riss sie die Tür zum Haushaltsschrank, der sich gleich neben der Spüle befand, auf. Als ob die Flüssigkeit Linas Vorhaben, sich mit einem Wischmopp zu bewaffnen, vorhersehen konnte, schnellte sie einige Meter nach rechts und tropfte laut auf die alten Holzdielen.
„Na toll, Mum wird sich freuen!" Genervt durchwühlte Lina das Chaos im Schrank nach einem Putzlappen. Der Holzboden war der ganze Stolz ihrer Mutter. Nicht, weil er teuer gewesen war oder das Holz eine besondere Maserung aufwies – nein, er war trotz der geringen handwerklichen Fähigkeiten ihrer Mum und den daraus resultierenden Kratzern, Kanten und Schnittfehlern selbst verlegt worden. In dem Kuddelmuddel aus Haushaltsreinigern, Bürsten, Schwämmen und anderen Krimskrams fand Lina den gesuchten Scheuerlappen in einem alten Joghurteimer und klatschte diesen auf die Pfütze, wobei sie argwöhnisch die immer noch gemächlich ihre Kreise ziehende Wasserblase aus dem Augenwinkel beobachtete. Die dunkle Spur auf der Tapete würde wahrscheinlich für immer als Andenken an dieses bizarre Phänomen bestehen bleiben.
„Dieses verdammte Haus! Einmal möchte ich keine seltsamen Geschehnisse erleben!" Lina erwürgte den Lappen eher, als ihn über der Spüle auszuwringen und beobachtete weiterhin den sich immer schneller bewegenden Wasserfleck – die drohende Anwesenheit des Lappens schien die Pfütze zu verunsichern.
„Mum! Dein Haus spinnt wieder!" Das Wasser an der Decke begann Wellen zu schlagen.
„Vergiss es! Du bekommst keine zweite Chance", flüsterte Lina dem Fleck böse zu. Im Flur erklangen leise Schritte, gedämpft von einem alten und zerschlissenen Perser, der die schon ramponierten Dielen schützte.
„Was ist denn? Funktioniert der Herd nicht mehr?" Das runde Gesicht ihrer Mutter Hellen erschien im Türrahmen. Die Stirn hatte sie aufgrund von Linas eindringlichem Tonfall vor Sorge gerunzelt.
„Das mein ich nicht. Das Wasser steigt einfach so an die Decke!" Sobald Hellen den Blick nach oben richtete, stürzte das restliche Wasser direkt auf sie herab – die günstige Gelegenheit weiteres Unheil anzurichten hatte die Flüssigkeit wohl nicht verstreichen lassen wollen. Quietschend hüpfte die ältere Frau in die Küche und sah von dort erstaunt an die nun wasserfreie Decke.
„Das ist neu", gestand sie erstaunt und trocknete sich die braunmelierten Haare mit einem Geschirrhandtuch.
„Wem sagst du das! An verschwindende oder sich seltsam verformende Gegenstände habe ich mich ja gewöhnt, aber das ..." Lina blickte zu dem leeren Emailletopf in der Spüle. „Das Mittagessen müssen wir wohl umplanen."
„Und ich habe mich so auf den Eintopf gefreut", erwiderte ihre Mutter leicht enttäuscht und hängte das Geschirrhandtuch nachlässig über einen der dunkelbraunen, in die Jahre gekommenen Stühle, die halb unter dem Küchentisch standen. Für Linas Geschmack nahm ihre Mutter die sonderbaren Geschehnisse viel zu selbstverständlich hin.
„Wenn du wischen willst, kann ich es gerne erneut probieren."
„Nein, danke. Aber was machen wir, wenn der Zustand anhält?" Lina zuckte hilflos und unbehaglich mit den Schultern. Sie hoffte inständig, dass dies nicht der Fall war. Was war, wenn nicht mehr nur das Wasser flog? Schnell verdrängte sie diesen Gedanken und drehte probehalber am Wasserhahn. Die ersten Tropfen fielen in den Topf, die nächsten schwebten aber wie selbstverständlich in einer Reihe zur Küchendecke. Auf halbem Weg fing Lina das im Sonnenlicht glitzernde Ensemble mit dem Lappen ab und schmiss ihn wütend in die Spüle.
„Nur Geduld, Mäuschen. Nach kurzer Zeit hat sich alles wieder beruhigt." Lina schnaubte genervt und lehnte sich rücklings an die Arbeitsplatte, die Arme vor der Brust verschränkt. „Deine Ruhe möchte ich mal haben. Ich bin wirklich gerne hier, aber ich freue mich jetzt schon auf die Normalität meiner Wohnung." Sehnsüchtig dachte sie an ihre kleine Zweiraumwohnung, auch wenn diese mitten in der Stadt an einer lauten Hauptstraße lag.
„Sei's drum. Dann könntest du mir jetzt beim Ernten helfen, kochen können wir später immer noch." Grummelnd folgte Lina der eher zierlichen Gestalt ihrer Mutter durch die kleine Diele mit den sonnengelben Tapeten, auf denen immer noch die Kreativitätsausbrüche von ihr und ihrem Bruder aus der Kindheit bewundert werden konnten. Weshalb die Krakeleien noch nicht entfernt worden waren, fragte sie sich heute noch. Einmal hatte Lina es ihrer Mutter sogar angeboten, aber diese meinte nur, sie gehörten einfach zum Haus wie der quietschende, schief verlegte Boden oder die vom Zahn der Zeit verwitterten blauen Fensterläden, die nur noch zur Zierde neben den Sprossenfenstern hingen, da es aufgrund der verrosteten Scharniere unmöglich war, sie ohne große Gewalt und viel Krach zu bewegen.
Im Wohnzimmer begegneten sie Kaja, Linas hellbraunem Retriever-Mischlingswelpen, der angeregt auf einem Gummihuhn knabberte und die beiden Frauen überhaupt nicht beachtete. Eine frische Brise wehte durch die alte, in den weiträumigen Garten führende Schiebetür und spielte nicht nur mit den hellbeigen, schweren Vorhängen der bodentiefen Fenster, sondern auch mit den tief hängenden Ästen der Trauerweide, welche den vorderen Teil des Gartens dominierte. Ihre Mutter war schon zielstrebig um den alten, knorrigen Baum herum in den hinteren Teil des Gartens marschiert, den sie liebevoll ihre Hexenhölle nannte, da dort nicht nur die verschiedensten Gemüsesorten wuchsen, sondern auch die unterschiedlichsten Kräuter. Und alles wucherte glücklich durcheinander: Keine Wege oder niedrige Buchsbaumhecken trennten die Pflanzen voneinander. Sobald Lina sich an den mit Früchten vollhängenden Ästen der jungen Obstbäume, die verstreut zwischen den Gemüse- und Kräuterinseln zusammen mit einigen Beerensträuchern standen, vorbeigeschoben hatte, betrat sie einen der wenigen Trampelpfade, die sich durch das Pflanzenchaos wanden. Bevor ihre Mutter jedoch etwas sagen konnte, schoss Kaja laut bellend zu den Frauen und begann freudig einen Teil des Kräuterchaos' umzubuddeln.
„Schluss, das reicht jetzt!" Die Hündin störte sich aber nicht am herrischen Tonfall ihrer Besitzerin und wandte sich der nächsten Fläche zu.
„AUS!" Kurz schauten zwei schwarze Knopfaugen zu Lina empor, dann lenkte aber eine Elster den Retriever wieder ab. Heftig mit der Rute wedelnd, tapste die Kleine auf den Vogel zu und verfolgte aufmerksam jede seiner Bewegungen.
„Sturer Hund."
„Ach, lass sie doch", meinte Hellen gutmütig lächelnd und steckte ein paar ausgebuddelte Blumenzwiebeln zurück in die Erde.
„Sie versaut deine Ernte, das geht doch nicht!" Grummelnd eilte Lina zurück zum Haus, um eine Leine für den aufmüpfigen Hund zu holen, aber gerade, als sie einen Fuß ins Wohnzimmer setzte, schoss ihr ein Wasserstrahl mitten ins Gesicht.
„Arrg!!" Schnell hechtete Lina hinter die Fenster, durch die sie eine sich träge dahinziehende Wasserschlange auf der Tapete an der Decke ausmachen konnte. „Mum, hattest du im Wohnzimmer Wasser offen herumstehen?"
„In der Gießkanne", kam leise die Antwort aus der hinteren Gartenecke, fast überdeckt durch das Rascheln der Weidenblätter.
„Dann verbreitet sich das Phänomen schon im ganzen Haus." Kajas Übermut hatte Lina komplett vergessen. Flink huschte sie mit eingezogenem Kopf unter der Wasserlinie hindurch, leerte jegliches in Gefäßen stehendes Wasser, da sie auf eine weitere ungewollte Dusche gut und gerne verzichten konnte, und kehrte mit einem Wischmopp bewaffnet zurück ins Wohnzimmer. Sobald aber die dicken, dunkelgrauen Fusseln nur in die Nähe der Wasserschlange kamen, wich diese rasch den unliebsamen Stoffstreifen aus.
„Soo Wasser – hier ist Endstation!" Forsch drückte Lina blitzschnell den Mopp mitten in die schmale Pfütze, welche keine Chance mehr hatte dem gierig saugenden Stoff zu entkommen und restlos im Gewebe verschwand. Zufrieden summend stellte Lina den Mopp zurück in die Küche und stolperte beinahe über ihre Hündin, die jetzt laut bellend an ihrem Hosenbein hochsprang.
„Jaja. Wir gehen jetzt raus." Ihr eigentliches Vorhaben, die Hündin an einen Baum zu binden, war vollständig aus dem Gedächtnis gelöscht. Eine kleine Wanderung würde ihr jetzt auch gut tun, vor allem, um diesem seltsamen Gemäuer einer kurzen Zeit zu entrinnen und die Gedanken wieder in eine andere Bahn zu lenken. Lina nahm den kleinen Teufel an die Leine, setzte sich ein Cappy auf die braunrote, rückenlange Mähne und öffnete die Tür. Wegen der wild zerrenden Kaja stolperte sie auf den Natursteinweg und konnte gerade noch die Tür schließen. Die Sonne schien warm auf ihr Gesicht und beleuchtete die Rosen- und Hortensienbüsche, welche den kleinen Gartenzaun von der Wildblumenwiese vor dem Haus trennten.
Als Lina von ihrem ausgiebigen Spaziergang zurückkam, entdeckte sie ihre Mutter völlig durchnässt im Hausflur.
„Was ist denn mit dir passiert?"
„Ich habe vergessen, dass das Wasser manchmal einen Umweg über die Decke nimmt", brummte Hellen missmutig und stapfte Richtung Bad, wahrscheinlich um sich umzuziehen. „Irgendetwas ist seltsam in diesem Haus. Ich lebe jetzt schon seit knapp dreißig Jahren hier, aber so etwas ist noch nie passiert ..."
„Dafür aber andere komische Dinge", kicherte Lina, was ihre Mutter aber nicht mehr hören konnte. Grinsend stiefelte die Studentin die knarzende Treppe ins Obergeschoss, in dem sich ihr Zimmer, das ihres Bruders und ein kleines Bad befanden. Gutgelaunt stieß sie die Tür zu ihrem Zimmer auf, um sich eines ihrer mitgebrachten Bücher zu holen, als Kaja ungestüm an ihr vorbeihuschte und freudig bellend einen Stapel Uni-Aufzeichnungen, der auf dem dunklen Holzboden lag, durcheinanderbrachte.
„Aus, Kaja!" Wenig erfreut schnappte Lina die Hündin am Halsband, zerrte sie rigoros aus dem Zimmer und schlug die Tür zu. Der Kleinen mussten dringend Manieren beigebracht werden! Winselnd kratzten kleine Tatzen an der grün gestrichenen Holztür, aber Lina blieb eisern und ignorierte die Bettelei. Verärgert heftete sie die überall verstreut liegenden Zettel in mehrere Ordner ab, die sie dann in ein dunkelbraunes Holzungetum stellte. Anschließend konnte sie sich endlich den Büchern widmen, die verstreut auf dem breiten Bett lagen, das sich gegenüber ihres ramponierten Kleiderschranks befand. Aber ihren favorisierten Roman fand sie nicht auf der geblümten Bettwäsche. Wahrscheinlich lag der Schinken immer noch in ihrem halb geleerten Koffer, der auf einem alten, mit verblassten erbsengrünen Stoff bezogenem Hocker thronte. Die Hälfte des Inhaltes hatte Lina in den Schrank einsortiert, danach aber die Lust verloren, sodass ein paar Hosen und Pullover sowie einiges an Unterwäsche immer noch in ihm durcheinanderlagen. Zwischen zwei blauen Pullovern fand sie das gewünschte Buch, schlug den Deckel des Koffers zu, falls ihr Raufbold von Hund auf die Idee kam, auch diesen Inhalt auseinanderzunehmen, und ging an den Fotos aus der Schul- und Studienzeit und einem selbst gemalten Gemälde ihrer Mutter, über dessen Inhalt Lina immer noch rätselte, hinaus in den Flur.
Kaja bellte freudig im Garten, höchstwahrscheinlich dem Nachbarskater hinterher, und ließ sie vorerst in Frieden. Leises Werkeln aus der Küche veranlasste Lina kurz nachzuschauen, was ihre Mutter da eigentlich trieb. Nur Hellens Rücken war zu sehen, ihr Kopf steckte im Eckschrank unter der Massivholzarbeitsplatte.
„Schäl doch schon mal die Kartoffeln", ertönte Hellens Stimme über das Klirren der Eisentöpfe. Schmunzelnd, wie ihre Mutter es wieder geschafft hatte, sie über den Krach überhaupt zu hören, legte Lina das Buch auf einen Stuhl und setzte sich an den alten, rechteckigen und wahnsinnig wackligen Küchentisch, der in der Mitte des Raumes stand. Auf ihm lagen schon die Kartoffeln sowie ein Schäler bereit.
„Du wagst es wirklich Kartoffeln zu kochen?", fragte Lina skeptisch und ließ den Blick über die einst dunkelbraunen Schränke wandern, die, genauso wie die ehemals sandfarbene und nun fast weiße Tapete, durch die Sonne ausgeblichen waren. Nur die dunkelbraune und übereck verlaufende Arbeitsfläche hatte es geschafft ihre Farbe beizubehalten. Das konnte aber auch daran liegen, dass die Oberfläche immer mit Kräutertöpfen, dunklen Gläsern, die mit den verschiedensten Gewürzen gefüllt waren, und der obligatorischen Obstschale vollgestellt war. Da hatte die Sonne keine Chance zu entfärben.
„Ich koche sie ja nicht, sie werden gebacken. Deswegen bitte sehr dünn schneiden." Der braune Haarschopf steckte immer noch im Schrank. „Ahh, da ist sie ja", rief ihre Mutter freudig und förderte eine gläserne Auflaufform zutage.

Sylnen - Der gefallene KriegerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt