Dendalors

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Die Tage schienen in der annähernd gleichbleibenden Gegend zu verschwimmen. Lina hatte das Zählen bereits aufgegeben. Ihr war klar geworden, dass ihr noch eine sehr, sehr weite Reise bevorstand. Auch wenn der Kater dies auf der Erde dargelegt hatte, ein wenig hatte sie an seiner Aussage gezweifelt. Jetzt bereute sie dies. Ihre Füße waren wund und sie war jetzt schon des Reisens müde. Wie sollte sie nur den weiteren Weg bestehen? Um sich von ihren trüben Gedanken abzulenken, musterte sie intensiver die Vegetation. Aus dem dunkelroten Gras, dessen Halme schlaff herabhingen, wuchsen hier und da hellbraune, dickfleischige Blätter. Blüten hatte sie schon seit einiger Zeit nicht mehr gesehen. Sie stolperte um eines dieser dickblättrigen Gewächse und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Wie meist zogen nur dünne Wolkenschleier über den Himmel, an dem schwach die Monde zu sehen waren. Regnete es hier überhaupt? Dafür, dass bislang ein Schauer ausgeblieben war, sah die Vegetation noch einigermaßen frisch aus, abgesehen von dem eher schlaffen Erscheinungsbild der meisten Gewächse.
„Regnet es überhaupt mal?", fragte sie den Kater, den der Marsch nicht zu ermüden schien.
„Nein."
„Und weshalb ist der Landstrich dann trotzdem so gut bewachsen? Auf der Erde würde hier jetzt nur trockenes, zerbrochenes Gras stehen und keine kräftigen Pflanzen."
„Wie ich bereits vor längerer Zeit erwähnte, sind die Gewächse in keinem gesunden Zustand. Für die Bewässerung sind Queahnk verantwortlich."
„Ich habe wie immer alles verstanden ..."
„Wasserlinien", seufzte Enerem genervt. Kaja grunzte leise. Die Hündin amüsierte sich immer köstlich, wenn Lina den Kater zum Reden zwang.
„Wasserlinien, soso", murmelte Lina leise.
„Dieses Phänomen ist schwer zu beschreiben", antwortete Enerem resigniert, schnüffelte kurz an einer dunkelblauen, röhrenartigen Pflanze, deren gelb-gefiederte Blätter interessiert in ihre Richtung wippten, ehe er weiterging. „Wo war ich stehen geblieben? Ach, ja. Lass es mich so erklären: Zu bestimmten Mondphasen erhebt sich das Wasser des Meeres und schwebt über diese Ebene. Und um deiner nächsten Frage zuvorzukommen –" Lina sah ihn böse an, weil er wieder ihre Gedanken gehört hatte, woraufhin Kaja ihm nicht gerade zimperlich in den Schwanz biss, was der Kater wiederum mit lautem Fauchen quittierte und nach der Nase der Hündin schlug, die sich schnell in Sicherheit brachte. Der Kater brummte noch einmal warnend, dann fuhr er mit der Erklärung fort.
„Einige der Gewächse besitzen bestimmte Vorrichtungen, mit denen sie die Linien einfangen. Anschließend teilen sie das Wasser mit sämtlichen umliegenden Gewächsen." Er knurrte noch einmal die hinter ihm laufende Kaja an und verschwand zwischen zwei dunkelgrauen Gewächsen.
„Du hättest ihn nicht beißen müssen", tadelte Lina die Hündin sanft, aber bestimmt.
„Ach wirklich? Ich habe es aber angedroht und ich halte mein Wort", meinte Kaja naserümpfend.

Gegen Mittag des nächsten Tages erschienen die ersten Sträucher in der Ferne. Blinzelnd stierte Lina auf die drahtigen Gewächse, rieb sich dann aber doch die Augen – vielleicht war es nur wieder eine Täuschung, denn des Öfteren hatte sie einen Grasbusch fälschlicherweise als Strauch gedeutet.
„Sind die echt?", fragte sie ungläubig, als die knotigen Umrisse weiterhin knotig aussahen.
„Natürlich sind die echt!", erwiderte Enerem flapsig und eilte erregt mit den Schwänzen wackelnd auf die dunkelblauen Büsche zu, an deren stachelbesetzten Ästen neben kleinen messerscharfen gelben Blättern, herrlich duftende, feuerrote Beeren in der Sonne glänzten. Verdutzt über sein unübliches Verhalten, folgte Lina dem beinahe rennenden Kater. Sobald er unter einem der dornigen Äste saß, graste er die Beeren an diesem geschickt ab. Lina stand stirnrunzelnd hinter ihm, kostete dann aber auch von den Beeren. Auf den saftigen, süßen Geschmack war sie nicht vorbereitet. Wie eine Besessene begann auch sie sich den Bauch vollzuschlagen. Kaja blieb jedoch mit angeekelter Miene ein wenig entfernt von den Büschen stehen – für Früchte hatte sie genauso wenig übrig wie für Gemüse.
„Die schmecken köstlich", schmatzte Lina und drehte sich mit einer Handvoll Beeren zu der Hündin um. „Und du willst sie wirklich nicht probieren?"
„Nein, danke."
„Dann verpasst du was." Lina stopfte sich gleich die ganze Hand von den nach Zitrone und Mango schmeckenden Früchten in den Mund und rupfte gleichzeitig weitere ab. Am liebsten hätte Lina den ganzen Tag damit verbracht, die süßen Beeren zu verspeisen, doch schnell trieb der Kater sie wieder an. Die Landschaft veränderte sich nun zusehends. Das Gras wurde dunkler, die kuriosen Blumen wurden noch seltener, dafür kamen die dunkelblauen Sträucher, an denen die Beeren wuchsen, jetzt sehr häufig vor, und als die Gruppe nach einer kühlen Nacht erwachte, sahen sie das erste Zeichen von Zivilisation: Rauch, der in einiger Entfernung aus einer Senke aufstieg.
„Ist das das Dorf, von dem du mal gesprochen hast?", fragte Lina und schirmte die Augen gegen die blendende Sonne ab, um den Rauch weiterhin im Auge behalten zu können.
„Gewiss. Stell jetzt keine Fragen mehr. Ich bin mir nicht sicher, ob wir beobachtet werden. Wenn die Einwohner dich nach deiner Herkunft und dem Grund der Reise fragen, sage ihnen, dass du aus der Drendr Mar stammst und du deine Verwandten besucht hast. Es ist nicht unüblich, dass Dendalors allein reisen. Falls das Gespräch auf Kaja kommen sollte, erzähle ihnen, dass es sich bei ihr um eine Variation einer Laslen handelt. Die Einwohner hier sollten nicht genau wissen, wie diese Geschöpfe aussehen, da sie in der Wüste beheimatet sind. Sollten weitere Fragen auftreten, werde ich sie beantworten. Mische dich bitte nicht ein. Du könntest dich unbewusst verraten."
„Wie du meinst. Muss ich sonst noch was beachten?" Kurz blinzelte er und sah zwischen ihr und Kaja hin und her, dann wandte er seine Aufmerksamkeit wieder dem Rauch zu.
„Nein. Alles Weitere müssen wir spontan entscheiden." Enerem ging ein paar Schritte, dann drehte er sich noch einmal um und musterte Lina ausgiebig, wobei sein Blick zu ihrem Rucksack schweifte.
„Du musst dich anders kleiden."
„Wie bitte?" Erstaunt sah sie ihn an.
„Hier wird andere Kleidung getragen."
„Gut, dass du mir das jetzt sagst. Wo ich doch so eine große Auswahl mit mir herumschleppe!" Genervt verschränkte sie die Arme. Warum hatte er das nicht schon auf der Erde sagen können? „Ich habe keine andere Kleidung mit."
„Ziehe die braune Hose und ein weißes Oberteil an, dass nicht zu eng anliegt und deine Arme bedeckt." Lina sah den Kater verwirrt an, zog dann aber ihre Leinenhose und eine weiße Tunika aus dem Rucksack.
„Du eignest dich wirklich nicht als Fremdenführer", murmelte sie, als sie sich umzog. Enerem schnaubte verächtlich, nickte dann aber.
„Das sollte gehen. Sie kennen sich bestimmt nicht mit der Kleidung aus der Wüste aus." Unglücklich blickte er zu ihrem Rucksack.
„Wälze ihn in der Erde und bedecke ihn anschließend mit Gras. Er dürfte dann hoffentlich nicht sofort auffallen."
Mit einem mulmigen Gefühl befestigte Lina ihren Schlafsack am Deckel des Rucksacks und rieb dann alles mit der rötlichgrauen Erde ein. Anschließend riss sie etwas des wollfadenähnlichen Grases aus und klemmte es unter die vielen Schnürungen. Enerem wirkte nicht gänzlich zufrieden, nickte aber kurz und setzte sich wieder in Bewegung.
„Jetzt siehst du aus wie eine Vogelscheuche", kicherte Kaja, die um Linas Beine tollte.
„Danke auch. Der Kater hat jetzt eine gaaaanze Menge gut bei mir", grummelte sie, schulterte den Rucksack und trottete Enerem hinterher, der schneller denn je durch das nun lichter werdende Gras marschierte.

Sylnen - Der gefallene KriegerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt