Crailsmur

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„Wieder daheim", seufzte Enerem selig und atmete tief die würzige Luft ein.
„Lina, Lina!", rief Kaja immer noch vollkommen aufgedreht und sprang wild umher: mal auf eine großblättrige, dunkelgraue Blume zu, dann in einen dichten, blutroten Grasbusch.
Das Einzige, was Lina als Antwort hervorbrachte, war ein gekrächztes „Archg". Das leicht hügelige Land, welches in keinster Weise der Erde glich, machte sie einfach nur sprachlos. Absolut außerstande die vielen neuen Eindrücke auch nur annähernd zu verarbeiten, registrierte sie kaum, dass Kaja zwischen der sonderbaren Vegetation verschwunden war. Erst als eine der Pflanzen ihre hellroten Ranken um Linas Handgelenk wickelte, erwachte sie aus ihrer landschaftshypnotischen Betrachtung und drehte sich langsam um die eigene Achse, die Augen immer noch weit aufgerissen, der Mund zu einem stummen „Oh" geöffnet. Hier, in Crailsmur, existierte nicht das saftige Grün der Erde; die vorherrschenden Farben waren gelbe und rote Pastelltöne, durchbrochen von hellgrauen Streifen, die, gleich wulstigen Narben, tiefe Schneisen in der wunderlichen Wiese hinterließen. Dunkelrotes, Wollfaden ähnliches Gras reichte ihr bis über die Knie und erstreckte sich in sämtliche Himmelsrichtungen. Hier und da ragten sonderbare Gewächse aus der roten Fläche: Einige schraubten ihre hellbeigen Stiele, versehen mit kleinen, dunkelblauen Kugeln, in die Höhe; an einer anderen Stelle durchbrachen dunkelbraune Stacheldrahtranken das Grasmeer, die sich langsam durch die Luft schlängelten; weiße, netzartige Blätter von ovaler Form tanzten in der seichten, aber heißen Brise auf cremefarbenen Stängeln; große sternförmige Blüten, die in allen erdenklichen Farbnuancen schimmerten, folgten mit ihren marmorierten Köpfen den träge am Himmel entlangziehenden Wolken; direkt neben Lina erwürgten hellblaue, lange tentakelartige Blätter mit knallroten Saugnäpfen eine trompetenförmige, grün-gelb gestreifte Blüte, deren Pflanze sich mit kleinen, hellroten und zu Fäusten geballten Blättern zu wehren versuchte. Die Tentakel gaben den Kampf jedoch ziemlich schnell auf, möglicherweise auch wegen der aufgedrehten Kaja, die freudig in die sich windenden Ärmchen biss.
„Es ist ... unglaublich", flüsterte Lina endlich, vollkommen überwältigt von der kuriosen Fauna, und strich mit den Fingern über ein dunkelviolettes, metallisch schimmerndes Blatt von stahlartiger Konsistenz, das leicht unter ihrer Hand zu vibrieren begann.
„Nein, es ist leblos", murmelte Enerem betrübt und stupste mit einem seiner Schwänze das rote Gras an.
„Das verstehe ich nicht."
„Schau doch, es wirkt alles irgendwie ... eingefallen, regelrecht verbraucht." Lina betrachtete eine Blume genauer: Ihre zartrosa Blätter erweckten den Eindruck verschrumpelter Kartoffeln und die große, pastellgrüne Blüte hing schlaff nach unten.
„Soll diese Blume nicht so aussehen?"
„Du wirst sehen, was ich meine, wenn das Gleichgewicht wieder hergestellt ist." Zweifelnd blickte Lina auf Enerems dunkelblau schimmerndes Fell, hakte aber nicht weiter nach. Langsam hatte sie begriffen, dass dieser seltsame Kater äußerst wortkarg war und eher ungehalten auf ihre vielen Fragen reagierte. Wie sollte es bloß werden, wenn sie jemals ein Dorf erreichten und sie bestimmte Fragen stellen musste, um aufgrund der garantiert verschiedenen Kulturen nicht von einem Fettnäpfchen ins nächste zu treten? Sie schob den Gedanken erst einmal beiseite. Noch war es nicht soweit, falls sie überhaupt jemals ein Dorf oder eine Stadt betraten. Wie ihre Mutter immer so schön zu sagen pflegte: Mach dir über ungelegte Eier keine Gedanken.
Bei dem Gedanken an die Erde zog sich Linas Magen schmerzhaft zusammen. Ob sie jemals wieder zurück konnte? -Klar geht das! Wo es einen Weg hinein gibt, gibt es auch einen hinaus!- Dennoch blieb ein mulmiges Gefühl hartnäckig in der Bauchgegend haften, das auch nicht der Anblick der wild durch das Gras springenden Kaja vertreiben konnte. Um sich abzulenken, bewunderte Lina wieder die erstaunliche Wiese, zu der die grauen Bahnen überhaupt nicht passten.
„Was hat es eigentlich mit diesen grauen Streifen auf sich?", fragte sie und deutete mit dem Finger auf eine nur wenige Schritt entfernte Bahn. Alarmiert schaute der Kater zu ihr auf, zuckte beunruhigt mit seinen Schwänzen und eilte durch das dichte Gras.
„Hey, warte!" Was hatte der Kater vor?
„Bloß nichts erklären", murrte sie genervt, stopfte schnell die achtlos im Gras liegenden Sylnen in den Wanderrucksack, warf das schwere Teil über die Schulter und stapfte hinter dem Kater her, der nun vor dem grauen Streifen kauerte. Erst jetzt offenbarte sich Lina die Beschaffenheit der Fläche in vollem Ausmaß und bereitete ihr leichtes Unbehagen. Es handelte sich, wie sie zuvor angenommen hatte, nicht um verbranntes Gras, sondern um eine vollständig von der Vegetation befreiten Zone. Dunkelbraune Wülste durchzogen die grauroten Streifen, welche sich unheimlich langsam weiter ausbreiteten und angrenzendes Gras einfach zu Staub zerfallen ließen. Das sah wirklich nicht gut aus!
„Wir müssen uns sputen!", sagte Enerem eindringlich und angespannt mit dem Schnurrbart zuckend. Seine beiden Schwänze peitschten über den Boden, mieden aber peinlichst den seltsamen Streifen.
„Ich habe ehrlich gedacht, dass die Bücher einfach nur wieder hier sein müssen, um das Land zu ... äh heilen." Lina beäugte angewidert die leise blubbernde Fläche, in Gedanken immer noch bei den seltsamen Folianten. Dass die Bücher derartige Fähigkeiten haben sollten, zweifelte sie weiterhin an, wagte es aber nicht, diesen Gedanken dem Kater gegenüber laut zu äußern, da er äußerst empfindlich reagierte, wenn es um die ach so wunderbaren Sylnen ging. Enerem warf ihr einen abfälligen Blick zu – was ihren Gedankengang nur bestätigte. Dann sprang er auf einen der hellbeigen, gedrehten Blattstiele, um die Umgebung besser überblicken zu können. Linas Blick schweifte derweil die endlos erscheinende Grasebene entlang zum Himmel hinauf, der in einem satten Grünblau erstrahlte, nur unterbrochen von wenigen, rosa schimmernden Schleierwölkchen und drei unterschiedlich großen, schwach schimmernden Monden. Einer der Himmelskörper war von enormer Größe und zwei diagonale, sich überschneidende Bänder umringten den bläulich grün schimmernden Koloss.
Kaja sprang ungestüm gegen Linas Bein und riss sie aus ihrer Betrachtung, verschwand aber augenblicklich wieder in einem besonders dichten Fadengrasbüschel. Erst jetzt bemerkte Lina, dass es überall summte und zirpte, obwohl sich kein einziges Lebewesen blicken ließ – nicht einmal die ordinären Mücken, die gerne in den Sonnenstrahlen tanzten.
Eine plötzlich auftretende Brise brachte Enerems Ausguck bedrohlich zum Schwanken. Murrend fiel der Kater eher von dem gedrehten Stängel, als zu springen, wobei er bei der Landung peinlichst darauf achtete, nicht mit dem grauen Streifen in Berührung zu kommen. Direkt vor ihm brach Kaja aus dem Gras, dicht auf den Fersen einer kleinen, beharrten Pflanze mit unzähligen Gliedmaßen. Den direkt vor ihr sitzenden Divinkater bemerkte sie nicht, ihr Blick war auf die flinke Beute fixiert, und bevor Enerem sich bemerkbar machen konnte, rannte die Hündin auch schon direkt in ihn hinein.
„Pass doch auf!", herrschte er sie an und putzte seine Pfote, auf welche die aufgedrehte Hündin getreten war. Verwirrt rappelte Kaja sich auf, blinzelte den Kater benommen an und blickte sich anschließend hektisch nach ihrer entschwundenen Beute um.
„Lass sie doch, Enerem! Sei mal ein wenig lockerer." Der Kater zuckte ungerührt mit den Ohren und erhob sich. „Los jetzt! Der Weg ist lang und wir verlieren Zeit." Ohne auf seine Begleitung zu achten, stolzierte er ein Stück an der grauroten Schneise entlang, sprang dann beherzt auf die andere Seite und verschwand im dunkelroten Gras. -Das wird ja 'ne tolle Reise. Wenigstens ist Kaja bei mir-, dachte Lina genervt. Die mürrische Art Enerems nervte sie jetzt schon, aber zum Glück war Kaja bei ihr. Die Hündin brachte sie regelmäßig zum Lachen – wie gerade jetzt, als sie mit einer der Stacheldrahtranken zu spielen begann. Die Pflanze wich aber dem kräftigen Gebiss der Hündin geschickt aus, sodass Kaja immer ins Leere schnappte.
„Komm, meine Kleine, sonst verlieren wir den Kater."
„Ich rieche ihn doch", antwortete Kaja trotzig, folgte aber endlich dem Divinkater, anstatt weiter die Pflanze zu ärgern, die ihre Stachel besetzten Arme in Linas Richtung schlängelte. Schnell schulterte Lina den Wanderrucksack richtig, schnallte sich Brust- und Bauchgurt um und folgte dem tierischen Duo vor sich.
Als sie auf die Schneise trat, hüpfte sie jedoch augenblicklich wieder zurück. Wider Erwarten hatte der Boden unter ihrem Fuß nicht nachgegeben, sondern sich ihr entgegen gestreckt, als ob er ihren Fuß verschlingen wollte. Die dunkelbraunen Linien begannen hektisch zu pulsieren und bewegten sich jetzt langsam unter schmatzenden Geräuschen auf sie zu.
„Das ist wirklich widerlich!" Schnell sprang sie über das eklige Phänomen und hastete auf die Stimmen Enerems und Kajas zu.

Sylnen - Der gefallene KriegerWo Geschichten leben. Entdecke jetzt