Vertrauen heißt manchmal auch Verlust

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Viel Spaß beim Lesen!

Koalala98

Da saß ich nun, unfähig irgendetwas zu sagen oder zu machen. In einigen Stunden werde ich die Stadt zum Ersten Mal zu Gesicht bekommen. Langsam breitete sich ein komisches Gefühl in mir aus. Wie soll ich Kontakte knüpfen, wenn ich das die letzten Jahre auch nicht geschafft hatte? Meine letzten sechzehn Jahre hatte ich dazu genutzt, entweder meine Nase in haufenweise Bücher zu stecken oder verschiedene Sportarten zu betreiben.Ich war immer das Mädchen, das sich im Hintergrund trieb und stattessen sonnten sich andere eingebildete Leute in ihrem Licht.

"Hallo? Bist du noch da?", langsam drangen die Worte meiner Mutter zu mir durch. Stirn kräuselnd schaute ich sie an. Ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich so vertieft war. "Ich verspreche dir, es ist eine sehr schöne Gegend und ich habe mir deine Schule schon angesehen, wunderbar." Ich zog eine Augenbraue hoch, wie leicht diese Frau zu beeindrucken war, jedenfalls hatte es nicht auf mich abgefärbt. "Ich glaube es dir, du hast es immerhin schon um die 20 Mal gesagt.", antwortete ich. Sichtlich nicht zufrieden mit meiner Antwort schaute sie wieder auf die Straße und drehte das Radio lauter. Sie ließ mich wieder mit meinen Gedanken allein. Ich sah wieder aus dem Fenster, unzählige Bäume rauschten an mir vorbei, Mal sah ich Wiesen, Mal sah ich Wälder.

Ich stieg aus dem Auto und betrachtete unser neues Zuhause. Zwar nicht elegant und mit hellen Farben, aber das war sowieso nicht mein Stil. Ein schmaler Weg führte durch das saftig grüne Gras zum Haus mit braunen Backsteinwenden. Das braune Dach ging auf der hinteren Seite glatt runter, auf der rechten und linken Seite waren Fenster. Auf der vorderen Seite stand eine dreieckige Erweiterung mit einem Fenster aus dem Dach. "Siehst du das oberste Fenster vorne? Da ist dein Zimmer.", sagte meine Mutter und zeigte auf die Erweiterung. Sie sah mich lächelnd an. "Wow, danke. Sieht wirklich schön aus.", ich warf ihr heute zum Ersten Mal ein warmes Lächeln zu, nahm meine Koffer und ging den Weg bis zum Haus entlang. Während meine Mutter die Tür aufsperrte lehnte ich mich an der vom Mittagssonne erwärmten Säule an. Meine Mutter trat plötzlich auf die Seite und machte eine einladende Bewegung um mich einterteten zu lassen. Ich ging voraus und sofort breitete sich ein wohliges Gefühl in meinem Bauch. Wie auch von Außen bewirkten die Brauntöne der Möbeln im Wohnzimmer, dass ich mich sofort heimisch fühlte. Vorsichtig ging ich die Stiegen hinauf zum Ersten Stock. Der erste Gedanke, der mir kam war, dass die Wände sehr kahl aussahen. In unserem letzten Haus klebten unzählige bunte Zettel mit Notizen an allen Wänden, die nacheinander runterfielen, wenn sich der Kleber auf der Hinterseite auföste. Als ich im ersten Stock angekommen war stieß die einzige Tür auf und ging in die Mitte des Raumes. Auf der gegenüberliegenden Wand war das einzige Fenster, das überraschend groß war, weiße kahle Wände, grauer Holzfußboden, auf der rechten Seite ein großer grauer Kleiderschrank aus Holz mit eingeschnitzten Verzierung, ein ebenso graues Bücherregal daneben und letztendlich ein großes graues Holzbett auf der linken Seite. Ich setzte mich auf das Bett und legte den Kopf schief. In zwei Wochen würde die Schule anfangen, mein offizielles letztes Jahr. Bei dem Gedanken legte ich mein Gesicht in meine Hände und stütze meine Ellbogen auf meinen Knien ab. Nur weil ich keine Freunde hatte und gerne las, hieß das nicht gleich, dass ich auch gerne in die Schule ging. Schule blieb eben in jeder Hinsicht Schule, egal wie merkwürdig man war. Aber danach würde ich etwas wunderbares machen. Etwas, was ich schon mein Leben lang machen wollte. Vielleicht würde ich mich dann etwas anders fühlen, vielleicht war es das Gefühl, das man hatte, wenn man alles, was man jemals wollte, erreicht hatte und sich nach nichts mehr sehnte? Vollkommener? Ich wusste es nicht. Das einzige, das ich wusste war, dass ich eine Weltreise machen wollte.

Nachdem ich meine schlechte Laune bei Seite geschoben hatte, schaute ich aus dem Fenster. Ich sah eine Häuserreihe gegenüber und oberhalb endlosen azurblauen Himmel mit watteartigen Wolken. Mal nahmen die Wolken erkennbare Formen an, mal konnte man nichts erkennen, bis sie sich wieder zu einer Figur bildeten. Ich weiß nicht wie lange ich dastand und gen Himmel blickte, als meine Mutter mein Zimmer betrat. Sie räusperte sich, woraufhin ich meinen Kopf in sekundenschnelle zu ihr drehte. "Schatz, ich habe mir da etwas gedacht und ich glaube, es könnte dir gefallen." Sie lächelte mich heute wahrscheinlich schon zum fünfzigsten Mal an, was mir schon langsam auf die Nerven ging. "Was hast du vor?", Skepsis und Ahnungslosigkeit mischte sich in meine Stimme, aber auch Neugierde. "Das ist eine Überraschung, übermorgen wirst du es erfahren." Sie drehte sich um und schritt aus dem Zimmer. "Übermorgen? Mum, komm schon, was heckst du aus?", rief ich ihr jammernd hinterher. Dann drehte sie sich abrupt um und antwortete: "Nach dieser Überraschung wirst du garantiert nicht mehr so allein sein." Dann war sie Weg. Der Erste Gedanke war: Seit wann machte sich jemand Sorgen um meine nicht existente soziale Bekanntschaften?

Nachdem ich es aufgegeben hatte darüber nachzudenken, was meine Mutter nun schon wieder geplant hatte, beschoss ich etwas nützliches zu unternehmen. Ich holte die braunen Kartons nacheinander aus dem Auto und brachte sie in mein Zimmer. Ich öffnete sie der Reihe nach und entdeckte Kleidung, die ich faltete und im Kleiderschrank übereinander stapelte. Ein Karton voller Bücher stellte ich nach Beliebtheitsgrad geordnet in das Regal. Ich hängte blaue Vorhänge auf, bezog mein Bett, stellte meinen Riesenkaktus mit dem roten Blumentopf auf das Fensterbrett. Ich öffnete schon die gefühlte zwanzigste Kiste, als ich meine Fotos fand. Fotos, die meine Mutter von mir gemacht hatte, als ich noch klein war. Wie sie immer dort gestanden war mit einem Riesengrinsen auf den Lippen, eine große schwarzen Kamera in den Händen haltend, dieses Bild werde ich wohl nie vergessen. Jedes Mal fragte ich begeistert ob sie nun ein Foto geschossen hatte und wenn de Antwort ja war, lief ich immer zu ihr und wartete darauf, dass das Foto ausgedruckt wurde, damit ich es bewundern konnte. Ich hielt ein Foto in den Händen als ich mich mit sechs Jahren versucht hatte zu schminken und die Mascara auf die Wangen geschmiert hatte, woraufhin meine Mutter nur lachend ein Foto geschossen und mich in die Badewanne gesetzt hatte. Ich reihte das Foto hinter das letzte und betrachtete das nächste, das entstanden war als ich auf einen hohen Baum geklettert war um Kirschen zu pflücken und auch wenn ich danach krachend auf den Boden gestürzt war, war es dennoch eine schöne Erinnerung. Das nächste Bild zeigte mich mit zwölf Jahren in einem Kajakboot mit einer Paddel in die Höhe haltend. An diesem Tag meinte mein Kajaklehrer, dass man ziemlich unfähig sein musste um mit dem Boot umzukippen, woraufhin ich nach 20 Minuten im Wasser schwamm und literweise Wasser in der Nase hatte. Das hatte er zwar gesagt um uns die Angst vor den Wellen zu nehmen, die das Boot ins Wanken brachten, doch als ich im Wasser trieb bekamen die anderen Teilnehmer viel mehr Angst als am Anfang. In all diesen Momenten war meine Mutter immer bei mir, hat mir stets geholfen, falls etwas schief gelaufen war. Sie war eine gute Mutter. Sie hatte ihr Bestes gegeben als sie von der Liebe ihres Lebens ohne jede Vorwarnung verlassen wurde und ihr einzig und allein ihre fünf jährige Tochter blieb.

Ich ließ mich rücklings auf mein Bett fallen und war viel zu müde um zu bemerken, das mir eine Feder brutal in den Rücken stach. Über mein Familiendrama nachzudenken hatte mir die Müdigkeit in die Glieder getrieben und ich konnte kaum die Augen offenhalten. Ich hatte schon sehr oft versucht, mir vorzustellen, wie das Gesich meines Vaters wohl aussah, denn immer wenn ich an ihn dachte kam mir ein Bild mit einem großgewachsenen Mann mit rabenschwarzem Haar in den Sinn. Doch sein Gesicht blieb mr verborgen. Anscheinend hatte meine Mutter auch all seine Sachen vernichtet, denn ich fand nie Fotos oder ähnliches. Ob er sich wohl fragte, was über all die Jahre aus seiner kleinen Tochter geworden war oder ob er wohl versucht hatte mit meiner Mutter Kontakt aufzunehmen, meinetwegen? Ich wusste es nicht, denn meine Mutter sprach nie darüber, ich hatte einige Male versucht das Thema anzusprechen, aber immer hatte sie das Thema gewechselt oder so getan als hätte sie mich nicht gehört. In all diesen Momenten floss nie eine einzige Träne, aber ich könnte schwören, dass ich sie fast jede Nacht weinen hörte. Deswegen fragte ich sie nicht mehr danach, die Angst Wunden aufzukratzen war einfach zu groß. Vielleicht hatte er sogar eine neue Familie gegründet. Wahrscheinlich würde ich es nie erfahren.

Plötzlich ging die Tür auf, zuerst erschien ein Schatten, dann die Gestalt meiner Mutter. Doch ich bewegte mich nicht und ließ die Augen geschlossen. Wie meine Mutter früher immer zu sagen pflegte: der Sandmann war schon längst gekommen. Sie kam an mein Bett und wünschte mir leise eine gute Nacht und verließ leise das Zimmer. Kurz darauf dämmerte ich ein.

Azur *ON HOLD*Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt