Die andere Seite

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Der eigene Magen knurrte so laut, sodass Julia aufwachte. Sie spähte durch die Kellertür und vermutete, dass sie schon den halben Tag verpennt hatte. Im Halbschlaf quälte sie sich aus der Decke und begann, sich einen Zopf zu binden. Aus einer Gürteltasche holte sie einen Art Dosenöffner heraus und versuchte die Essensbüchsen zu öffnen. Nur mit viel Mühe konnte sie das Metall zerschneiden.

Seit Monaten ernährte sie sich nur von diesen Konserven. Damals haben sie noch in einer Gruppe gejagt, das ein oder andere Tier verspeist, was sicherlich nahrhafter war. In ihrer Heimatstation gab es viele alte Frauen, die in der Lage waren, giftige von gesunden Pflanzen zu unterscheiden. Daraus bereiteten sie nicht nur Medikamente gegen Kopfweh und Magenschmerzen zu, sondern auch die leckersten Suppen. Um mehrere Riesenkessel herum versammelten sich alle und jedem wurde eine große Portion eingeschenkt. Diese Damen waren ein Vorbild für Julia, sie bewunderte diese, was sie schon alles durchgemacht haben. Natürlich waren alle schon sehr alt und so kam es, dass jede von Ihnen nacheinander dahin schied. Sie bekamen einen eigenen Friedhof, neben den Gräbern für Kinder und Helden.. 

Julia wurde so langsam wach und streckte sich. Sie legte die leeren Konserven in die Ecke und krabbelte aus der Decke. Sie zog ihren Overall wieder an, klopfte den Schmutz von ihrer Hose und zog sie an. Die Kleider waren noch kalt von der Nacht und Julia fröstelte.  Aus ihrer Seitentasche nahm sie ein paar Streichhölzer und steckte sie an. Das warme Licht tat gut, mehr psychisch als physisch. 

Als das Streichholz ausbrannte, begann sie die Eisenstange vor der Tür auszuhebeln. Jedoch rührte sie sich kein bisschen. Langsam kam die Panik. Sie hatte oft Geschichten gehört, bei dem sich Leute, die keine Hoffnung in der Zukunft sahen, sich selber irgendwo in Häusern eingesperrt haben und von innen alles verriegelten. Doch so wollte Julia nicht enden. Lieber von Gruppen entführt, von Worms gefressen, aber alleine in einem engen Raum wahnsinnig werden? 

Sie rüttelte heftiger an der Stange. Immer wieder. In einem Moment der Schwäche rutschte Julia aus und verlor das Gleichgewicht. Mit ihrem ganzen Gewicht stürzte sie auf ihren Unterarm. Zuerst realisierte sie es nicht und lag benommen auf der Seite. Allmählich jedoch floss warmes Blut an ihrem Arm entlang, und tropfte auf den Boden. Der Schmerz zog sich durch ihren Körper und Julia fühlte sich schwach. Hilflos. Allein. Ihr wurde schwindlig, wahrscheinlich weil die Wunde immer noch blutete. Sie versuchte zu ihrem Rucksack zu kriechen und nahm ein Seidentuch heraus. Provisorisch bindete sie dieses um ihren Arm. 

Paar Momente später beruhigte sich die Blutung, und Julia hatte nur noch eins im Kopf. Aus dem Keller gelangen und so schnell wie möglich zur Apotheke kommen, um professionelles Verbandsmaterial zu bekommen. Der einzige Weg jedoch war versperrt. Sie sah sich genauer im Zimmer um und entdeckte nichts. Doch nun spürte sie was Unmögliches. Ein Luftzug regte sich und verschwand wieder. Der Keller hatte keine Bruchstellen oder undichte Stellen, das dachte zumindest Julia immer. Wie eine Irre lief sie im Keller hektisch herum. "Wo?!,  WO??", schrie sie vor sich hin und stampfte durch das Zimmer. Dabei bemerkte sie ein dumpfes und hohles Geräusch an einer Stelle. Sie kniete sich hin und scharrte die Erde und den Staub zur Seite. Vor ihren Augen kam eine Falltür zum Vorschein, die komplett aus Holz bestand. Selbst in ihrem Zustand konnte sie diese Öffnen und ein gewaltiger Luftzug kam ihr entgegen. Ohne weiteres Nachzudenken schnappte sie sich ihren Rucksack und sprang runter. 

Ohne sich weiter zu verletzen landete sie auf dem Boden. Ein kleiner Tunnel, wahrscheinlich von Hand gegraben, verlief geradeaus ins Schwarze. Ohne sich Sorgen zu machen, was sich weiter verbirgt, lief sie mit schnellen Schritten weiter. Sie merkte, dass der Luftzug stärker wurde. Plötzlich wurde der Tunnel kleiner und merkte, dass er vor ihrer Nase einfach so aufhört. 

"Nein... Das kann nich sein..", stammelte sie und tastete die Wände ab. Kein Knopf, keine Türklinke, rein gar nichts konnte sie ertasten. Sie schlug vor lauter Verzweiflung gegen die Wand. Hoffnungslos...

Die Augen, die sich langsam an die Dunkelheit gewöhnt hatten, bemerkten nun ein metallisches Glitzern, nur ein paar Meter in der Wand kurz vor dem Tunnelende. Mit vorsichtigen Schritten lief sie dem entgegen und bemerkte, dass es eine fest montierte Leiter war. Sie schaute nach oben und der Luftzug meldete sich wieder. Mit letzter Kraft kletterte sie hoch und öffnete die Falltür über ihr. Ein grelles Licht strahlte hinunter und blendete Julia. Sie erklimmte die letzten Stufen und legte sich keuchend und erschöpft auf den Boden. Sie war wieder draußen. 

Sie schaute sich im Liegen um, wo sie sein könnte. Doch kein einziges Gebäude konnte sie erkennen. Nur das Haus hinter ihrem Rücken kam ihr bekannt vor. Es war das Haus mit dem Keller, wo sie die Nacht verbracht hatte.

Doch Julia befand sich auf der anderen Seite.


After 28 years                       (feat. MCL)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt