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Die Schafe zogen wie Wolken an ihm vorbei. Er sah ihnen zu, wie sie sich um die restlichen Büschel Gras stritten. Die dummen Viecher langweilten ihn. Er schloss die Augen, legte den Kopf in den Nacken und spürte die Hitze der Sonne in seinem Gesicht. Sie hatte die Landschaft in eine karge Einöde verwandelt. Seine alten Freunde ritten jetzt durch diese Einöde, trieben Kühe zusammen oder lieferten sich Wettrennen. Und er saß hier und sah den Schafen zu, wie sie sich satt fraßen. Er war ein Hirte, nicht mehr und nicht weniger. Er saß nicht in einer Bank, er stand nicht hinter einem Tresen. Er saß mitten in dieser Wüste fest, in der nie etwas passierte und sich nie etwas veränderte, außer den Wolken, die am Himmel entlang zogen. Er senkte den Kopf wieder, als die Sonne langsam unangenehm wurde. Nun da er fast erwachsen war, würde er seinem Vater immer mehr Arbeit abnehmen, bis er ihm schließlich den Hof abnahm. Der Gedanke machte ihm Angst. 35 Schafe in seinem Besitz, was tat er, wenn eine Krankheit ausbrach? Was, wenn ein Feuer ausbrach und seinen ganzen Besitz zerstören würde? Er hatte große Angst vor seiner Zukunft. Am liebsten wäre er für immer ein kleiner Junge auf dem Hof seines Vaters. Am liebsten wäre er zurück nach Irland gegangen, er wusste, dass es dort nie solche Dürren gab wie hier. Sein Vater hatte es ihm erzählt. Erneut sah er sich die Schafe an, zählte sie durch, schaute nach, ob es ihnen gut ging. Es waren 35 fette, gesunde Schafe. Er könnte sie auch verkaufen und mit einem der Pferde verschwinden. Es schien verlockend, aber ihm war klar, dass er das nicht tun konnte. Es wäre eine Schande, seine Eltern alleine auf dem Hof zu lassen.
Plötzlich spürte er es. Etwas lag in der Luft. Er drehte sich um und sah, was es war. Eine Gruppe Reiter wirbelte in der Ferne Staub auf. Sie ritten direkt auf sein Haus zu. Ob sie ihn wohl mitnehmen würden? Er könnte mit ihnen durchs Land ziehen. Bestimmt waren es Abenteurer oder Goldsucher, die in seinem Haus um Herberge bitten würden. Und vielleicht waren es ja auch...Kopfgeldjäger. Die Legenden, von denen ihm seine Freunde erzählt hatten. Das Spiel, dass sie als kleine Jungen gespielt hatten. Ihre Eltern hatten ihnen gesagt, sie sollten damit aufhören. Kopfgeldjäger waren nicht beliebt. Sie schienen geheimnisvoll und schweigsam, viele sagten jedoch auch, dass sie gute und unterhaltsame Verbündete waren. Man konnte Ihnen vertrauen. Ob er wohl das Zeug zum Kopfgeldjäger hätte?
Die Reiter schienen ihn nicht mal zu bemerken. Er lag schließlich zwischen den Schafen. Heute Abend würde er sie bestimmt kennen lernen. Er fragte sich, welche Geschichten sie ihm wohl zu erzählen hatten. "Du bist ein Träumer", schallte die Stimme seiner Mutter im Kopf. Seine Eltern waren Realisten, er hatte viel Fantasie. Zu viel, wenn es nach der offiziellen Vorstellung von einem Hirten ging. Es waren 4 Männer, sie sahen wild aus. Er hatte sich auf den Bauch gelegt und sah ihnen zu, wie sie das Haus betraten. Er lächelte. Endlich wieder aufregende Gäste. Gespannt starrte er das Haus an. Doch da durchbrach ein Schrei die Idylle. Ein Schrei seiner Mutter. Er stand auf, rannte auf das Haus zu. Das waren keine Abenteurer. Das waren Banditen, Schurken, Plünderer, Wegelagerer. Was würden sie tun? Das Geld rauben, ein Schaf töten? Die Pferde klauen? Kurz bevor er es zum Haus geschafft hatte, ertönten drei Schüsse. Die Idylle war zerfetzt. Stocksteif blieb er auf der Stelle stehen. Die vier Männer verließen das Haus. Sie hatten den Ehering seiner Mutter in der Hand. Sofort sahen sie ihn. Sie musterten ihn von Kopf bis Fuß. Er erkannte, was sie alles mitgenommen hatten. Den wenigen Schmuck seiner Mutter, das teure Porzellan, ein Erbstück seiner Großmutter. Und seine Spieluhr. Die reich verzierte Spieluhr, die ihm sein Vater gekauft hatte, als er drei Jahre alt war. Es war seine einzige Erinnerung an seine eigentliche Heimat, Irland. Einer der Männer trat auf ihn zu. Er hatte lange, rabenschwarze Haare und eine hervorstechende Stelle auf der Stirn, die aussah wie eine Brandwunde. Sie schien alt zu sein, obwohl sie aussah, als wäre sie immer noch frisch. Der Mann beugte sich vor und sah ihm in die Augen. Dieser Kerl widerte ihn an. Trotzdem bewegte er sich nicht, auch wenn er diesen Mann am liebsten erwürgt hätte. "Schaut mal, Jungs! Der Schisser ist zu Eis gefroren!", schrie der Mann. "Tu ihm nicht weh Max, seine Schafe brauchen ihn doch!", scherzte ein Anderer. Er war extrem groß und hatte kurzes, blondes Haar. "Wie wäre es, wenn wir einfach mal testen, wie still unsere Eissäule wirklich ist", schlug der Dritte vor. "Eine gute Idee!", antwortete der Mann mit der Narbe, der scheinbar Max hieß. Max sah auf ihn hinab, machte plötzlich ein komisches Geräusch...und hatte ihm dann ins Gesicht gespuckt. Langsam, aber wütend hob er die Hand um sein rechtes Auge zu säubern, auf dem die Spucke klebte. Als Max lächelte, verzog sich seine Wunde. Im Hintergrund lachten sich seine drei Freunde fast tot. Er betrachtete sie nun genauer. Neben dem blonden Riesen stand ein eher kleiner, dicker Mann. Er hatte zwar einen Hut auf, schien jedoch keine Haare zu haben. Daneben stand ein weiterer Mann. Er sah genauer hin. Das war kein Mann. Die Gesichtszüge waren viel zu feminin. Ihre Kleidung war zwar männlich, ebenfalls ihr auftreten, trotzdem war er sich vollkommen sicher. Sie hatte dunkle Haut, fast so dunkel wie die der Sklaven auf den Plantagen, weit entfernt von hier. "Was sollen wir mit ihm machen, Max?", fragte der Fette. Erneut sah Max in sein Gesicht. "Lasst ihn am Leben, soll er seine Eltern begraben. Aber..." Er sah die Herde in der Ferne. "Jim, Willis, tötet die Schafe!" Alle drei Männer machten sich auf den Weg. "Bill!", brüllte Max. "Hab ich gesagt, du sollst ebenfalls Schafe schlachten? Oder willst du, dass Jim und Willis dich auch schlachten?" "Nein Max", antwortete der große blonde Mann namens Bill reumütig. "Und wie heißt du, Junge?", fragte Max ihn plötzlich. "Das geht dich einen Scheiß an!", antwortete er. Er wusste nicht genau, woher er seinen Mut nahm, aber er konnte ihn gut gebrauchen. Er hätte erwartet, dass Max ihn für diese Antwort blutig schlagen würde, stattdessen rief dieser nur:"Sieh nur Bill, es ist ein Kobold! Ein kleiner grüner irischer Kobold! Und was für einen Akzent er hat! Man könnte glatt denken, er führt uns gleich zu seinem Topf voll Gold am Ende des Regenbogens!" Max lachte ein dunkles, spöttisches Lachen. In der Ferne hörte man das Wimmern der sterbenden Schafe. Er wusste, dass er nichts tun konnte. Er konnte nur hoffen, dass sie den Hof möglichst schnell verlassen würden. Und das Max nicht mehr mit ihm reden würde. Nach einer Weile schienen alle Schafe tot zu sein. Einen Kadaver brachten Jim und Willis mit. "Was bringt ihr mir ein blutiges Schaf mit?", fragte Max aufgebracht. Willis sah zu Jim herüber. Jim, der aussah wie eine Frau. Und er hätte schwören können, dass es wirklich eine war. "Abendessen", behauptete Jim. Max antwortete nicht. Er holte seinen Revolver heraus und hielt ihn unter das Kinn des Jungen. "Merk dir das Gefühl, kleiner Kobold. Für den Fall, dass du zu mutig wirst. Merk es dir!" Dann stieg er auf sein Pferd und ritt zusammen mit seinen Freunden weg. Der fast erwachsene Junge rannte ins Haus und sah seinen Vater und seine Mutter in großen, roten Pfützen liegen. Er wusste, wie skrupellos Banditen waren, aber sie konnten ihm doch nicht einfach seine Eltern rauben. Was sollte er denn jetzt machen? Sein Vater war bereits tot, nur seine Mutter wimmerte noch. Er kniete sich zu ihr auf den Boden und nahm ihre Hand. Er sprach ein Gebet für sie. Als er geendet hatte hob sie mit letzter Kraft die Hand und legte sie an seine Wange. "Nathan", flüsterte sie noch, bevor ihre Augen leer wurden und die Hand schlaff zu Boden sank.

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