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Sie ritten so lange durch die Landschaft, bis Nathan auf seinem Pferd plötzlich die Augen zu fielen und er langsam nach vorne sackte. Schnell riss er seine Augen auf und setzte sich peinlich berührt wieder aufrecht in seinen Sattel. Ezrah lachte. "Brauchst du eine Pause, Junge?", fragte er. Nathan nickte müde. In der Ferne standen ein paar vertrocknete Bäume, Ezrah deutete auf sie und erklärte:"Dort machen wir eine Pause zum Schlafen." Nathan war erleichtert, er hatte sich schon vorgestellt, wie er todmüde vom Pferd kippen würde. Zwischen den Bäumen stiegen sie von ihren Pferden. Ezrah zog die Pferdedecken unter den Sätteln heraus und reichte eine von ihnen Nathan. "Damit decken wir uns zu?", fragte er angewidert. "Nein, damit machen wir ein Lagerfeuer", sagte Ezrah. "Ach so!", rief Nathan und schmiss seine schon auf den Boden, als er Ezrah laut lachen hörte. "Natürlich decken wir uns damit zu!", rief er. Nathan schlug seine Hand vor den Kopf. "Aber die Decke stinkt!", jammerte er. Ezrah seufzte genervt. "Schafe stinken auch und trotzdem hast du jahrelang zwischen ihnen rum gelegen!", argumentierte er. Dagegen konnte Nathan keine Einwände finden. Er setzte sich in das trockene Gras und sah Ezrah zu, wie er ein paar Äste von den Bäumen abbrach und mit ihnen einen großen Haufen bildete. Anschließend nahm er ein Streichholz und zündete einen der Äste an. Nach kurzer Zeit hatten die Beiden ein großes Lagerfeuer. Nathan setzte sich nah an das wärmende Feuer, mit der Dämmerung wurde es langsam kühl. Auch Ezrah setzte sich ans Feuer und blickte sentimental in die Flammen. "Wie geht es dir, Nathan?", fragte er plötzlich, in einem ungewöhnlich ernsthaften Ton. Nathan war überrascht, dass Ezrah ihn bei seinem echten Namen nannte. Erst wollte er sagen, dass es ihm gut ging, doch tat es das wirklich? Gestern waren seine Eltern gestorben und sein Leben hatte sich vollkommen verändert. Und er vermisste sein altes Leben, er vermisste seine Eltern. Plötzlich wollte er das langweilige Leben eines Hirten mehr als alles andere. "Ich bin traurig, Ezrah", antwortete er. "Das kann ich verstehen, es ist nicht leicht", stimmte Ezrah zu. Wie richtig er lag, wie sehr es stimmte. Es war nicht leicht, plötzlich seine ganze Existenz zu verändern und neue Ziele zu bekommen. Es war nicht leicht, plötzlich so etwas wie einen Erzfeind zu haben. Es war nicht leicht, plötzlich einen Beruf zu lernen, in dem man Menschen umbringen musste. Doch am schwierigsten war es für Nathan, dass ein vollkommen Fremder Mann nun sein einziger Freund sein würde. "Nathan, ich weiß, was du fühlst, aber du musst lernen, das hier ist der Westen und er ist verwegen und unfair. Und das mit deinen Eltern passiert sehr oft, aber noch schlimmere Dinge passieren. Ich werde dich nicht dazu zwingen, es zu vergessen, aber ich will, dass du verstehst, dass jeder hier Verluste gemacht hat, obwohl sie nicht immer menschlich sein müssen. Hast du das verstanden, Nathan?", fragte er mit Nachdruck in der rauen Stimme. Nathan nickte. "Gute Nacht, kleiner Leprechaun, Schlaf gut, morgen wirst du viel neues erleben", sagte Ezrah und legte sich hin. Nathan legte seinen Kopf wieder auf seinen Rucksack und kuschelte sich in seine Decke. Das Feuer war schön warm und es knackte beruhigend. Doch trotzdem war Nathan noch immer traurig. Er musste an seine Mutter denken und an ihr wundervolles Lachen. Und an seinen Vater mit seinen lustigen Witzen beim Abendessen. Er dachte an Irland, die grüne Heimat, in die er wahrscheinlich niemals zurückkehren würde. Er dachte an all die Erinnerungsstücke, die Max ihm genommen hatte. Tränen stiegen ihm in die Augen, doch er würde nicht weinen, Kopfgeldjäger weinten nicht. Trotzdem entfuhren ihm kleine Schluchzer. "Nathan, was machst du da für komische Geräusche?", fragte Ezrah plötzlich. Nathan machte keinen Laut, vielleicht würde Ezrah denken, dass er geschnarcht hatte. "Nathan, du kannst mir ruhig sagen, dass du weinst." "Nein, ich weine nicht. Kopfgeldjäger weinen nicht!", antwortete er und fühlte sich stark. "Natürlich weinen Kopfgeldjäger, wir sind doch keine Monster. Du kannst von mir aus weinen so lange du willst, aber hab morgen keine roten Augen, sonst lacht sie dich aus!", befahl er. "Wer ist sie?", fragte Nathan, doch Ezrah schwieg.

Nathan wurde am nächsten Morgen sanfter geweckt. Ezrah schüttelte ihn nur sanft. "Ist es nich-", murmelte er, doch Ezrah drückte ihm die Hand auf den Mund und zog ihn in eine aufrechte Sitzposition. Er deutete auf etwas, das etwa 10 Meter vor ihnen zu seinen schien. Erst sah Nathan nichts, doch nach einer Weile erkannte er plötzlich einen Hasen, der bewegungslos im Gras saß. Nathan fand ihn unglaublich süß, wie er durch das Gras hoppelte. Er hätte ihn ewig lang beobachten können, als ihm Ezrah plötzlich ein Gewehr reichte. "Erschieß ihn!", befahl er ihm. Er gab Nathan das Gewehr und legte seine Hände richtig auf. Doch Nathans Hände zitterten, als er versuchte, auf den Hasen zu zielen. Er hatte noch nie eine Waffe in der Hand gehabt. "Vater, vergib mir", dachte er, bevor er die Augen schloss und auf den Abzug drückte. Ein Schuss riss die Idylle in Fetzen. Nathan wurde übel, er hatte den armen, kleinen Hasen getötet. Doch plötzlich hörte er Ezrah laut lachen. "Mach die Augen auf, Leprechaun, er ist weggelaufen. Schießen muss ich dir wohl beibringen", sagte er. Nathan öffnete die Augen und tatsächlich sah er keine Spur von einem toten Hasen im Gras. Ezrah schien rein gar nicht wütend zu sein, was Nathan erleichterte. Jedoch hoffte er, dass er während der Ausbildung nicht nochmal auf einen Hasen schießen musste. "Komm, sattel dein Pferd, Junge, wir wollen heute Mittag in der Stadt sein." "Erwartet sie uns schon?", fragte er interessiert. "Wenn ich mich angekündigt hätte, würden die mich gar nicht reingelassen haben." Nathan wusste nicht genau, was er davon halten sollte.

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