4. Juni 1998 – Todestag von Cassie
Abschiedsbrief
Liebe Mama,
ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Vielleicht fange ich mit ich liebe dich an. Ich kann nicht in Worte fassen, wie leid es mir tut, dass ich dich alleine gelassen habe. Ich habe meine Briefe, die ich an den Tod geschrieben habe, in der Diele unter meinem Bett versteckt. Falls du sie lesen möchtest. Ich weiß nämlich nicht, ob sie dir das Herz brechen werden. Mama, es tut mir so unglaublich leid. Ich habe in den Briefen teils darum gebeten, dass der Tod mich endlich holt. Und es tut mir leid, dass du das jetzt hier liest, obwohl du meine Briefe vielleicht nicht vor hattest zu lesen. Allerdings musste es raus.
Ich wollte von den Schmerzen endlich befreit werden. Du weißt, welche unerträglichen Schmerzen ich hatte. Ich wurde von innen aufgefressen. Jeden Tag habe ich gekämpft, Mama. Ich bin keine Kämpferin, das weißt du. Das war ich noch nie. Und für diesen Kampf war ich nicht gerüstet. Ich habe aufgegeben, ich habe mein Leben aufgegeben und meine Krankheit gewinnen lassen. Wenn du diesen Abschiedsbrief liest, hat der Tod gesiegt. Wahrscheinlich hat er meine Bitte endlich erhört.
Du solltest wissen, dass ich nicht nur von meinen Schmerzen erlöst werden wollte. Ich glaube, du kannst dir denken, dass ich bei Rick sein wollte, Mama. Ich kenne ihn seit ich auf der Welt bin, wie kann ich da ohne ihn leben? Dieser Schmerz hat nochmal einen drauf gesetzt.
Trotz all diesen Gründen, trotz dass ich genug Gründe hatte, sterben zu wollen, was ich ja auch einerseits wollte, habe ich dich nicht vergessen. Ich weiß, dass es mir zu spät aufgefallen ist, und es gibt keine Entschuldigung dafür, aber es tut mir aufrichtig leid. Mir ist aufgefallen, dass ich dir das nicht antun kann, dass ich dich nicht alleine lassen kann. Das ist zu egoistisch von mir.
Es tut mir leid, Mama, aber wenn du diesen Brief hier liest, hat der Tod mich in einer Sache nicht erhört und mir nicht noch mehr Zeit gegeben. Ich habe wohl zu oft darum gebettelt, dass er mich holt. Die letzte Bitte, mir wegen dir mehr Zeit zu geben, war zu spät. Es tut mir so leid.
Ich erinnere mich gerade daran, wie du gesagt hast, dass ich verrückt geworden bin, weil ich an den Tod schreibe. Ich weiß Mama, das bin ich wahrscheinlich geworden, jedoch war es für mich eine Möglichkeit, mit meinem Tod umzugehen. Es tut mir leid, dass du dein einziges Kind verloren hast und dass dein einziges Kind kurz vor seinem Tod verrückt geworden ist. Es tut mir alles leid, was ich dir jemals angetan habe. Ich habe dir so viel Kummer bereitet, ich habe dich bis an deine Grenzen gebracht, und dafür gibt es keine Entschuldigung. Ich kann nicht oft genug sagen, wie leid es mir tut, dass ich dich – und Jenny – zurückgelassen habe. Aber der Tod hat mich eingeholt, Mama, er hat mich auf einer Seite erhört. Ich hoffe, dass du dein Leben jetzt nicht an die Wand fährst. Denk einfach daran, dass ich jetzt von meinen Schmerzen erlöst bin, okay? Mir geht es jetzt gut. Und vor allem bin ich bei Rick. Ich werde endlich bei Rick sein.
Ich hoffe, man kann meinen Brief später noch lesen, denn meine ganzen heißen Tränen tropfen jetzt auf dieses verdammte Blatt. Danke für alles. Pass auf dich auf, pass auf Jenny auf, sag ihr, dass ich sie lieb habe. Bitte versink nicht in den Tränen.
Erinnerst du dich noch, als wir mal auf dem Friedhof an Opas Grab waren? Ich war noch ganz klein, und trotzdem erinnere ich mich haargenau daran. Als wir nach draußen gingen, sah ich, wie am anderen Ende vom Friedhof ganz viele Leute um einen Sarg herumstanden.
„Mami, was ist das da vorne?", habe ich dich gefragt.
„Das ist eine Beerdigung, mein Schatz."
„Und was ist das?"
„Das machen die Menschen, wenn jemand gestorben ist", hast du gesagt. Auf Opas Beerdigung war ich nicht gewesen, weil ich da erst ein paar Monate alt war. Ich hab dich mit ganz großen Augen angeguckt und habe Angst bekommen.
„Werde ich auch mal auf deiner Beerdigung sein?" Ich weiß, was du sagen wolltest: Ich hoffe ja, Cassie, weil ich will, dass du nach meinem Tod noch ganz lange lebst. Natürlich hast du nein gesagt. Ich habe dir geglaubt.
Und jetzt - jetzt bin ich vor dir tot. Ich bin so froh Mama, dass ich nicht auf deine Beerdigung gehen musste.
Ich liebe dich.
Deine Tochter Cassie
DU LIEST GERADE
Lieber Tod ...
Nouvelles"Sie wird ihr einziges Kind verlieren, und jeden Tag muss sie darum bangen, dass ich sterben werde. Ich will nicht mehr, dass sie bangen muss. Ich will Gewissheit. Also sag mir, Tod, wann ist „bald"?" Cassie denkt in letzter Zeit sehr oft an den Tod...