Voll ungerecht

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Fachmännisch rief Leo Schmackes über den Platz: „Gedränge!"
So nannte man beim Rugby die Startposition. Die Mannschaften stellten sich einander gegenüber auf, und die Spieler hakten sich unter, um als Kette die Gegner über die Mittellinier schieben zu können.
Urs stand am äußeren Ende seiner Kette, genau wie Bibi. Sie beugen sich zueinander, und ihre Nasenspitzen berührten sich fast. Er musterte sie abschätzig. „Du bist also eine Hexe?"
Bibi entgegnete: „Hast du damit ein Problem?" Das klang durch den Mundschutz, den sie sich wie alle anderen angelegt hatte, ziemlich lustig, obwohl die Stimmung eher angespannt war.
„Nee, ich hab damit überhaupt kein Problem. Aber wer sagt mir denn, dass du nicht für deine Mannschaft hext?", presste Urs hervor.
„Mein Hexenehrenkodex!", erwiderte Bibi, während sie keinen Zentimeter zurückwich.
Verdutzt starrte Urs sie an. „Was?"
Jetzt mischte sich Alex ein, der am anderen Ende in der Reihe der Falkensteiner stand, und rief: „Kannst ihr vertrauen. Ich kenn Bibi gut."
Da löste sich Bibi aus der Reihe, richtete sich auf, hob die Hand und bestätigte: „Hiermit gelobe ich, im Spiel nicht zu hexen!"
Urs lachte etwas verächtlich auf. „Was gelobt sie? Ganz schön aufgeblasen für so 'ne Landpomeranze."
Der Anpfiff von Leo Schmackes verhinderte den Ausbruch eines richtigen Streits. Schnell reihte sich Bibi wieder bei ihren Teamkollegen ein. Die beiden Mannschaften schoben gegeneinander an, um an den Ball heranzukommen und den ersten Spielzug zu starten. Sie wurden angespornt von den Anfeuerungsrufen der Cheerleaderinnen, die inzwischen so eingestimmt waren, dass alle eine perfekte Show hinlegten.

„Hands on hips
Smiles on lips
Spirit in the heart
Girls, let's start!"

„Wir sind gut
Uns besiegt keiner
Wir, wir sind die Falkensteiner!"

Die Falkensteiner konnten den Ball erobern, und Bibi fing einen geschickten Pass von Alex auf. Dann sprintete sie los. Den Ball unter den Arm geklemmt, rannte sie über den Platz auf ihr Ziel zu. Keiner der Gastschüler traute sich so recht, Bibi entgegenzutreten und sie aufzuhalten. Weswegen Urs, der sich offenbar selbst als Mannschaftskapitän auserkoren hatte, losbrüllte: „Jetzt traut euch doch, Mensch!"
Ndougo, der Bibi gerade am nächsten stand, verteidigte sich: „Mann, das ist ein Mädchen!"
„Spielt doch keine Rolle! Das ist 'ne Hexe!", entgegnete Urs genervt.
Denn schon hatte Bibi den Ball im gegnerischen Feld abgelegt, und das wurde mit fünf Punkten belohnt. Es stand jetzt fünfundzwanzig zu dreißig!
Die Falkensteiner Zuschauer jubelten - auch weil Bibi und Alex sich nun geschickt den Ball hin- und herpassten und weder Urs noch Köbi dazwischenkamen, was vor allem Urs total wurmte. Das Spiel nahm Fahrt auf, und die Zuschauer feuerten ihre Mannschaften an. Dr. Krähwinkel lief aufgeregt am Spielfeldrand entlang. Dank Bibis Einsatz stieg die Moral der Falkensteiner Truppe so, dass sie Gastschüler trotz ihrer Rugby-Erfahrung ziemlich blass aussahen. Erneut konnte Bibi sich den Weg durch die Gegner bahnen, rannte mit dem Ball hinter die Linie und legte ihn freudestrahlend ab. Es stand nun dreißig zu dreißig!
Im nächsten Augenblick schlug Bibi, von Urs getackelt, hart auf dem Boden auf. Er war so genervt, dass er noch nachträglich die Notbremse zog. Ein Raunen ging durch die Zuschauer.
Benommen rappelte sich Bibi auf und fuhr Urs an: „Was sollte das denn, Mann!"
Urs zuckte nur gleichmütig mit den Achseln. Sein Kumpel Köbi ergriff für ihn Partei: „Was denn, so ist halt Rugby!"
Tina, die aufs Spielfeld geeilt kam, sah das ganz anders und rief dem Schiedsrichter Leo Schmackes zu: „Der hat Bibi total gefoult!" Ihre Freundin war nicht mehr im Ballbesitz gewesen, als Urs sie so hart angegangen war. Das war im Rugby nicht erlaubt!
„Die hat doch den Ball verhext! Sonst hätt die das nie geschafft!", entgegnete Urs ohne jegliches Schuldbewusstsein.
Das brachte Bibi erst recht in Rage. „Was? Das ist totaler Blödsinn!"
Noch wütender wurde sie, als Leo Schmackes sie nun fragte: „Ach was? Du hext dich am Gegner vorbei und machst Punkte?!" Dass ein Mädchen siech so gegen die Jungs durchsetzen konnte, fand er irgendwie verdächtig.
„Äh ... Augenblick mal!", erwiderte Bibi empört.
Doch Leo Schmackes hatte offenbar keine Lust mehr auf Diskussionen. Die Spielzeit war sowieso zu Ende, und er pfiff ab. „So! Das Spiel ist aus!", erklärte er.
Bibi und Tina schauten sich fassungslos an. Wie bitte?

Bibi und Tina - Mädchen gegen JungsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt