Mia
Das Meeresrauschen gleicht einem Konzert, übertönt beinahe meinen lauten Herzschlag und verhindert jeden Versuch, einen klaren Gedanken zu fassen. Meine Augen sind zusammengekniffen, während ich mich an dem rostigen Geländer der alten Brücke festklammere und den abgeblätterten Lack unter meinen Fingerkuppen spüre.
Meine innere Schwäche bricht - genau wie die Wellen unter mir - in sich zusammen. Die Tränen laufen mir nun still im Sekundentakt die Wangen hinunter, hinterlassen ihre salzige Spur darauf und tropfen von meinem Kinn in die Tiefe des Ozeans.
Ich will Ihnen folgen, zusammen mit meiner Schwäche versinken.
Ein Teil dieser Erde werden.
Diese Nacht ist nicht regnerisch oder trüb, so wie die Letzten. Nein, sie ist wunderschön und ich frage mich, ob das ein Zeichen sein soll. Vielleicht ist es das Zeichen, auf das ich schon so lange warte.
„Reiß dich zusammen!", flüstere ich zu mir selbst, will die banale Vorstellung auf eine Rettung vertreiben.
Denn es gibt nichts mehr zu retten.
Ich öffne meine Augen, blinzle und schaue in die tobenden Fluten unter mir. Das sonst so strahlend blaue Meer ist plötzlich nicht mehr, als ein schwarzes Loch.
Ich lockere meinen Griff etwas und löse die ersten drei Finger von dem Einzigen, das mich noch auf dieser Welt hält.
Es wäre so leicht, so simpel, einfach loszulassen.
„Tu das nicht!", ertönt eine Stimme hinter mir. Sie zerstört meine Illusion einem Konzert zu lauschen und lässt mich zusammenzucken.
Mein Kopf schnellt nach rechts.
Ein Junge steht da. Ungefähr drei Meter neben mir und sieht mich an. Er sieht mich so direkt an, aus seinen klaren, blauen Augen, dass sich sämtliche Härchen an meinem Körper aufstellen. Nur langsam sickert das Geschehen in mein Bewusstsein, so als wäre ich in Treibsand gefangen, bis mir ein geschocktes Keuchen entkommt.
„Verschwinde!", Meine Sicht verschwimmt und somit sehe ich bloß seine Silhouette, die näher zu kommen scheint.
Ich versuche einige Zentimeter wegzurücken, doch es geht nicht. Meine Hände zittern zu sehr um meine Bewegungen kontrollieren zu können.
Er soll weggehen. Bitte, er soll verschwinden.
„Komm, gib mir deine Hand", fordert er mich sanft auf und streckt mir seine entgegen.
Ich sehe mich panisch um, fast so wie ein in die Enge getriebenes Tier. Unzählige Gedanken schießen durch meinen Kopf, verursachen Schmerzen als wären es Platzpatronen.
„Hast du nicht gehört? Hau ab!", schreie ich über den Lärm der Wellen hinweg, in der Hoffnung, er würde mir den Rücken kehren.
Aber mein Ausbruch scheint ihn nicht im Geringsten zu beeindrucken, denn er steht weiterhin da. Nur seine Hand sinkt langsam nach unten.
Der Junge mustert mich wieder. Ich sehe ihm an, das er angestrengt versucht eine Lösung zu finden. Eine Lösung, für diese unvorstellbar prekäre Konstellation, die wir ergeben. Er geht einen weiteren Schritt auf mich zu und jetzt, da er in dem flimmernden Licht der Straßenlaternen steht, erkenne ich seine markanten Gesichtszüge, die im Widerspruch zu dem warmen Lächeln auf seinen Lippen stehen.
DU LIEST GERADE
Nameless
Short Story„Ich bin schon lange nicht mehr da und werde auch nie wieder hier sein. Mit jeder Sekunde, in der du mich leben lässt, stirbst du etwas mehr."