Kapitel 1

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Geduldig wartete ich auf den Zug nach Hannover. Die tägliche Fahrt zwischen Bremen und Hannover ist schrecklich stressig, doch meine Mutter ist strickt gegen mein Auszug. Warum ich jeden Tag nach Hannover fahren muss? Ich studiere dort die Politische Wissenschaft an der Leibniz Universität. Damals hätte ich es mir niemals zugetraut und wäre auch viel zu faul dafür, aber heute mit meinen 21 Jahren bin ich echt froh darüber. Als der Zug endlich eintraf, drängte ich mich durch die Menschenmenge nach vorne, denn auf länger als eine Stunde stehen hatte ich überhaupt keine Lust. Als ich dann einstieg umschling mich die Wärme des Zuges. Sofort fühlte ich mich wohl. Ich ging die wenigen Stufen hoch und fand zu meinem Glück einen freien Platz. Meine Tasche, die mir meine Mama letztes Jahr aus meiner Heimatstadt Belgrad in Serbien mitbrachte, legte ich auf den freien Platz neben mir. Durch die Frontkamera meines Iphones kontrollierte ich, ob meine Haare noch sitzen. Ich strich mir zwei bis drei Male durch meine glatten, schulterlangen, schwarzen Haare und sie sitzen wieder. Ich bin recht schlank, doch überhaupt keine sportliche Person. Ganz im Gegenteil, ich hasste Sport. Meine Figur hab ich wohl von meiner Mama geerbt. Die Länge von meinem Vater. Ich bin 1,72 groß. Erst jetzt bemerkte ich, dass durch das Tageslicht meine grün- gelblichen Augen noch heller wirken. Ich schaltete die Frontkamera wieder aus und steckte meine Kopfhörer ein. Eigentlich lernte ich während der Fahrzeit, jedoch sehnte ich mich heute nach Musik. Ich liebe Musik. Zur Zeit fahre ich total auf den Künstler The Weeknd ab. Fragt nicht wieso... Er ist einfach talentiert. Ich lehnte mich ein wenig zurück und startete die Musik. Bevor ich entspannen konnte blieb ein jüngerer Mann vor mir stehen. Schnell nahm ich die Ohrstöpsel aus dem Ohr und richtete mich gerade hin.

,,Entschuldigen Sie bitte"

,,Ist der Platz frei", fragte er lächelnd und setzte sich nach dem ich die Tasche in meine Hand nahm hin.

,,Ja, natürlich"

Das war nicht das erste Mal, dass ich ihm begegnete. Auch er fährt jeden Tag von Bremen bis nach Hannover, soweit ich das beobachten konnte. Doch es ist das erste Mal, dass wir uns unterhalten. Auch wenn es nur kurz war. Ich steckte die Kopfhörer wieder raus und packte sie in meine Tasche. So schnell verging mir die Lust nach Musik.

,,Entschuldigung, hättest du vielleicht ein Taschentuch für mich", fragte er ganz lässig und ich blickte ihm direkt in seine strahlend blauen Augen, die leuchteten wie der Ozean, der durch die Sonne reflektiert wird.

,,Ja, moment"

Verlegen kramte ich in meiner Tasche herum und gab ihm ein Taschentuch. Er bedankte sich freundlich und putzte sich die Nase. Ich beobachtete ihn unbewusst dabei und nach dem ihm meine Gafferei auffiel fing er an lauthals zu lachen. Sofort blickte ich aus dem Fenster und lief rot an. Warum muss auch mir immer sowas passieren?! Nach einer halben Stunde überkam mich die Langeweile und ich fing wieder an ihn zu beobachten, diesmal ganz bewusst. Er tippte auf seinem Handy herum. Als ich versuchte etwas genauer hinzusehen und mir das auch gelang, bemerkte ich, dass er mit einem Mädchen schrieb, wahrscheinlich seine Freundin. Als Hintergrund seines Messaging-Dienstes Whatsapp hatte er die rot-schwarze Kosovo Albanische Flagge. Dann ist er wohl ein Kosovo Albaner. Als er dann auf die Home-Taste drückte erblickte ich auf ein weiteres Hintergrundbild. Darauf erkannte ich ihn und seine Freundin beim Küssen. Sie hatte etwas südländisches an sich, wahrscheinlich eine Türkin. Langsam kam ich mir selbst blöd vor. Was tu ich hier überhaupt? Ich sah auf die Uhr - noch eine halbe Stunde. Dann blickte ich wieder aus dem Fenster und schloss meine Augen. Ein wenig Schlaf wird gut tun. Bevor ich einschlief hörte ich den Typen neben mir streiten. Ich hörte auch die Stimme seiner Freundin, mit der er gerade telefonierte. Ich hörte sie oft den Namen Leutrim nennen also vermute ich mal sein Name ist Leutrim. Die Beiden diskutierten lauthals und aus seiner Stimme ertönte ein wütender Klang. Es ging in ihrem Streit wohl um ein weiteres Mädchen, mit der er kontakt hat. Nach einer zehnminütigen Diskussion mit seiner Freundin legte er dann einfach auf.

,,Soll euch Frauen mal einer verstehen", sagte er leise und schüttelte den Kopf.

,,Eh... Wie bitte?"

Sofort sah er mir mit böser Miene in die Augen. Ich schreckte ein wenig auf und sah ihn fragend an.

,,Ach gar nichts", sagte er und griff nebenbei nach seiner Tasche.

Er stand auf und ging die Stufen hinunter zu den Türen des Zuges. Ich fragte mich, ob ich irgendetwas falsches tat, doch letztendlich war mir das gleichgültig. Wieder sah ich auf die Uhr - Noch 10 Minuten. Ich legte meine Tasche wieder auf den freien Platz und lehnte mich zurück. Jetzt konnte ich endlich entspannen - doch leider nicht lange. Als angekündigt wurde, dass wir in kürze den Hauptbahnhof in Hannover erreichen, griff ich zu meiner Tasche und ging bewusst zu den Türen an dem sich dieser Leutrim nicht befand. Endlich angekommen. Ich ging die Treppen herunter und lief zum Parkplatz hinterm Bahnhof. Dort wartete meine Freundin Ashaya in ihrem Auto auf mich. Eine wunderschöne Inderin und ebenfalls 21 Jahre. Auch sie studiert an der Uni hier in Hannover. Doch die Glückliche lebt auch hier. Ich hätte auch in Bremen studieren können, aber mir gefiel die Uni in Hannover und auch die Stadt viel mehr. Außerdem brauchte ich ein wenig Abwechslung. An der Universität angekommen brachte ich meine Vorlesungen hinter mich, doch heute konnte ich mich überhaupt nicht konzentrieren. Ich verbrachte immer sehr viel Zeit in der Universität und es machte mir auch viel Spaß. Gegen Nachmittag fuhr mich Ashaya dann wieder zum Hauptbahnhof. Dort wartete ich wieder ungeduldig auf den Zug nach Hause. Als dieser endlich eintraf, suchte ich den ganzen Zug nach einem Platz ab, doch zu meinem Pech fand ich keine freien Plätze also entschloss ich mich dazu, mich auf die Treppe zu setzen. Nach 10 Minuten wurde es extrem ungemütlich, doch mittlerweile bin ich es gewöhnt und konnte auch ein wenig mit dem Kopf ans Treppengeländer gelehnt schlafen. In Bremen angekommen nahm ich die SBahn nach Hause und von der Haltestelle aus 5 Minuten zu Fuß und ich war endlich Zuhause. Eigentlich fahre ich vom Hauptbahnhof aus immer mit dem Auto nach Hause, doch mein Auto ist zurzeit in der Reparatur und mit dem Leihwagen kann ich überhaupt nicht fahren, vor allem nicht in unserer Innenstadt. Ich betritt die Wohnung meiner Familie und begrüßte meine beiden Brüder Maksim 18 Jahre, Milan 23 Jahre und meine Mama. Mein Vater befand sich auf der Arbeit.

,,Deine Oma hat sich gemeldet, ich soll dich von ihr grüßen", sagte meine Mutter besorgt.

,,Oma? Wie geht es ihr", fragte ich neugierig.

,,Nicht besonders gut"

Meine Großeltern mütterlicher- und väterlicherseits leben in Serbien. Ich hoffe, ich kann dieses Jahr noch nach Serbien fliegen und sie besuchen. Ich kann nicht in Worte fassen, wie sehr sie mir fehlen. Am liebsten würde ich meine Sachen packen und direkt hin fliegen, doch mir fehlt die Zeit und das Geld. Ich gab meiner Mutter einen Kuss und sagte ihr sie soll sich nicht all zu viele Sorgen machen. Anschließend ging ich in mein Zimmer und setzte mich auf mein Bett. Ich dachte über meine Oma mütterlicherseits nach. Sie ist bereits sehr alt und es geht ihr mit der Zeit immer schlechter. Ich versuchte ständig meine Mutter zu beruhigen, doch machte mir selbst die größten Sorgen und Vorwürfe, denn wenn sie von uns geht bevor ich sie überhaupt wieder sehen konnte und mich richtig von ihr verabschieden kann werde ich mir das niemals verzeihen. Jeden Tag habe ich aufs neue Angst um sie. Um auf andere Gedanken zu kommen, holte ich meinen Ordner raus und erledigte die Vor- und Nacharbeiten. Während ich mittendrin war, forderte meine Mutter mich auf, in die Küche zu gehen um Abend zu essen. Ich schloss mein Handy ans Ladegerät und packte mein Ordner weg. Dann ging ich in die Küche und dort blickte ich direkt in Marcels wunderschöne Gesicht. Ich lief ihm in die Arme und küsste seine Lippen. Wir sind jetzt genau 1 Jahr und 2 Monate zusammen und an den Gefühlen hat sich absolut gar nichts geändert. Er ist mir so viel wert. Auch er ist Serbe.

,,Habe mir gedacht, ich esse heute mit meinem Engel und ihrer wundervollen Familie", sagte er so liebevoll und mit bezaubernden Lächeln. Er ließ mich wieder zu Boden und küsste mir die Wange wund.

"Ein schöner Gedanke", flüsterte ich ihm zu.

Wir aßen und verbrachten den Abend gemeinsam. Als Marcel wieder ging legte ich mich schlafen. Und schon wieder muss ich morgen auf den Zug warten, mit Ashaya zur Uni, dann wieder auf den Zug warten und nach Hause fahren und der Tag ist schon wieder vorbei. Jeden Tag erlebe ich das Gleiche, doch es machte mir nichts aus. Ganz im Gegenteil - ich war glücklich.

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