Totenbett

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Ich hatte die letzte halbe Stunde damit verbracht mit hängenden Schultern auf einem der Küchenstühle zu sitzen und die Wand anzustarren. In der Zwischenzeit hatte sich Josh dafür entschieden, das wenige Geschirr, dass wir benutzt hatten, doch ab zu waschen, weil es sich anders "nicht lohnen" würde. Meiner Meinung nach konnte er lediglich meinen tristen Blick nicht mehr ertragen. Verständlich. Ich sah wirklich scheiße aus, leichenblass mit gigantischen Augenschluchten trotz des vielen Schlafs. Außerdem fühlte ich mich dreckig, auch wenn es nicht mal einen Tag her war, seitdem ich mich das letzte Mal geduscht hatte. "Es ist nicht deine Schuld, ok? Keiner hat gedacht, dass es so weit kommen könnte", antwortete er mitleidig und ich konnte nicht anders, als ihm DEN BLICK zuzuwerfen. "Halt einfach die Klappe!", flüsterte ich grimmig, stand auf und stapfte entschlossen in Richtung Haustür. Nachdem sie hinter mir zugefallen war, dauerte es nicht mal eine Sekunde, bis sie wieder von Josh's noch vom Wasser triefenden Händen wieder aufgerissen wurde. "Helen?! Wo willst du hin?!" Seine Stimme klang so hysterisch, wie die einer alten Frau, deren preisgekrönter Langhaardackel von den Nachbarskindern gestreichelt wurde. "Das geht dich nen Scheißdreck an!!!" Der anfängliche Schock über Tom's Selbstmord war beinahe alles umfassender Wut auf meinen Bruder, Josh und vor allem auf mich selber gewichen. Das Einzige, was ich außerdem noch empfand, war ein Fünkchen Hoffnung. Die Hoffnung, dass Josh falsch lag. Fest entschlossen stapfte ich weiter. "Helen!" Immer noch hysterisch rannte er hinter mir her und baute sich vor mir auf. "Es tut mir leid, ok? Ich hätte es dir früher erzählen sollen, aber ... naja ... wer ist schon gern der Überbringer von schlechten Nachrichten? Ganz besonders bei solchen. Wir kennen uns kaum, aber dafür dein Bruder und ich uns umso mehr. Glaub mir, du bist nicht die Einzige, für die sich das wie ein Schlag ins Gesicht anfühlt. Er war mein Freund. Einer der wenigen wirklichen, die ich je hatte. Auch, wenn er das in der letzten Zeit etwas anders gesehen hat. Und du bist seine kleine Schwester, Helen. Irgendwer muss ja jetzt auf dich aufpassen." Ich schnaufte. "Das kann ich auch sehr gut alleine!", unterbrach ich ihn trotzig. "Ich kann es besser, glaub mir. Es ist ok, wenn du mir nicht wirklich vertraust. Das kann ich verstehen. Aber sag mir wenigstens, wozur Hölle du hin willst" Sein Blick wirkte so elendig und bettelnd mit diesen beinahe schwarzen Augen und den ebenso dunklen, in alle Richtung abstehenden Haaren. Auch wenn er in den dunklen Klamotten ein bisschen wie ein Emo aussah, war er ziemlich niedlich. Ein süßer, kleiner Emo ... oh, na toll. Und da war der Moment. Alle Aggression hatte sich in Luft aufgelöst und stattdessen den Schwärmereien für einen Typen Platz gemacht, der der Meinung war, mich vor der großen, bösen Welt da draußen beschützen zu müssen. Wie armselig. Schäm dich, Helen! "Ich geh ins Leichenhaus", antwortete ich schließlich, nachdem ich meine innere Stimme zum Schweigen gebracht hatte. Josh zog nur verwirrt eine Augenbrauen hoch. "Ist das eine Metapher dafür, dass du jetzt auch Selbstmord begehen willst?" DER BLICK ließ ihn auf der Stelle verstummen. "Nein, du Idiot! Ich will zu Tom. Vielleicht ... ich meine ... ich war auch erst tot und dann hab ich wieder gelebt, oder? Möglicherweise liegt das ja in der Familie...  oder so." Ich seufzte verzweifelt und Josh stand auch kurz davor. "Helen, dass mit dir war doch aber was komplett anderes. Deine Gliedmaßen und Organe waren noch intakt. Das war lediglich ein Fehler der Ärzte. Tom ... hast du eine Ahnung, wie Menschen aussehen, wenn sie von einem Zug mitgenommen wurden?", versuchte er mich vom Gegenteil zu überzeugen. Keine Chance. Ich war von Grund auf ein Sturkopf. "Und wie erklärst du dir dann die veränderte Haar- und Augenfarbe? Und erst das Zeug, dass aus meinen Händen kam?" Er schwieg.

Wenige Minuten später standen wir vor dem unscheinbaren Gebäude und mit jedem Schritt, den wir darauf zu gingen, wurde ich nervöser. "Glaubst du, er könnte das Zeug auch haben und wenn ja, könnte es ihn ... vielleicht auch ...?" Ich steckte in einer Zwickmühle. Auf der einen Seite hatte ich riesige Angst vor dem Zeug aus meinen Händen, doch ich hoffte auch so sehr, dass es mir meinen Bruder zurück geben konnte. "Könnte sein, aber du wirst es nicht heraus finden, wenn du hier rum stehst und überlegst, ob es so ist oder nicht! Wenn wir schon mal hier sind, können wir auch gleich nachschauen." Josh machte einen großen Schritt in Richtung Tür und öffnete sie mit einer einladenden Geste. Ich atmete noch einmal tief ein, dann trat ich ein. An dem Tresen saß eine junge Blondine in einem weißen Kittel und strich sich gerade die Locken hinters Ohr, während sie mit konzentrierten Gesichtsausdruck in einigen Akten las. Erst als die Tür hinter uns laut ins Schloss fiel, schreckte sie auf. "Oh ... Guten Tag. Was kann ich für sie tun?", fragte sie freundlich. Ich räusperte mich. "Ähm ... es müsste heute bei ihnen jemand ... eingegangen ... sein. Sein Name war Thomas Ellington. Wir ... waren sehr gute Freunde von ihm und würden ihn gerne noch einmal sehen, bevor ..." Ich ließ den Satz unvollendet. Um keinen Preis der Welt wollte ich mir vorstellen, dass mein Bruder wirklich unter de Erde kam. Sicher hatte wir uns immer lieb gehabt und uns teilweise die schlimmsten Dinge an den Kopf geworfen, aber das es tatsächlich so weit sein sollte, dass ich ihn beerdigen musste ... Nein! Einfach nur nein! "Tut mir sehr leid, Miss. Aber dafür müssten sie entweder mit einen Familienmitglied herkommen oder mit einer schriftlichen Erlaubnis von einem." Sie lächelte schwach und strich sich erneut nervös die Haare zurück. Josh seufzte hinter mir leise und drängte sich dann kurzerhand an mir vorbei. "Hören sie, Samantha, richtig?", fragte er während er auf das Namenschild an ihrem Kittel starrte und lehnte sich auf den Tresen. "Wir wollen wirklich nur noch mal zwei Minuten da rein, ok? Es ist uns wirklich sehr wichtig. Das verstehen sie doch sicher, oder? Sie werden uns auch gar nicht mitbekommen, gescheige denn ihre Vorgesetzten. Wir wollen ihn nur noch einmal sehen. Mehr nicht." Mit jedem Satz war er gefühlte zehn Zentimeter auch f dem Tresen in die Richtung der Angestellten gerutscht, bis ihre Gesichter erschreckend nah aneinander waren. Trotzdem zweifelte sie. "Und ich bin mir sicher ihr Aufwand lässt sich mit einem Essen wieder gut machen. Ich kenne ein schickes, kleines Restaurant in der Nähe. Dort würde es einer so reizenden Dame wie ihnen sicher gefallen." Flirtet er gerade ernsthaft mir ihr?! "Wie wäre es morgen Abend um acht? Sagen Sie mir einfach, wo ich sie abholen soll."
Zwei Minuten später stand ich erneut in der Leichenhalle, in der ich nur wenige Stunden zuvor in einem der engen Metallkästen von den Toten zurück gekehrt war. Samantha lief an uns vorbei zu einem Kasten weiter hinten im Raum, öffnete ihn und zog die Liege aus der Wand. "Ihr habt zwei Minuten! Und ich muss euch warnen! Er sieht ziemlich übel aus." Mit diesen Worten verließ sie den Raum. Seit sie eigewilligt hatte, zitterte ich am gesamten Körper. Und das ich jetzt vor meinem toten Bruder stand, der vermutlich aussah, wie eine überfahrene Tomate, machte das Ganze auch nicht besser. Mit weichen Knien ging ich auf den bewegungslosen Körper zu und entfernte das weiße Lacken von dem Ende, wo ich das Gesicht vermutete. Zu aller Erstaunen sah es ganz normal aus. "Also ich weiß gar nicht, was sie hat. Es gibt wirklich hässlichere Typen.", scherzte ich, erleichtert darüber, dass mir die überfahrene Tomate erspart geblieben war. Vorsichtig strich ich ihm die goldenen Haare aus dem Gesicht. Ich hätte schwören können, dass seine Haare, als ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, einen eher staßenkötterblonden Farbton gehabt hatten. "Tom?" Behutsam fühlte ich seinen Puls. "Tom? Bitte sei nicht tot. Ich lebe auch noch ja? Tu mir wenigstens einmal dem Gefallen! Komm schon!" Ich kaute nervös auf meiner Unterlippe herum. "Na los, du Idiot! Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit." Energisch schob ich das Kinn nach vorn und begann auf ihn einzuschlagen. "TOM!!! Du verdammter Arsch!" Ich hatte angefangen zu schreien und prügelte mittlerweile regelrecht auf den Toten ein, als Josh mich von ihm wegzerrte. "Helen, hör auf! Das macht ihn auch nicht wieder lebendig!" Doch genau in dem Moment riss Tom schlagartig die Augen auf und zuckte so sehr zusammen, dass er mitsamt Lacken von der Liege fiel. "Tom!" Freudestrahlend stürzte ich mich auf ihn und nahm ihn in den Arm. "Helen? Du lebst? Und warum zur Hölle bin ich nackt?" Die Verwirrung war ihm tief ins Gesicht geschrieben. Wen wunderts? Ich ließ ihn los und grinste ihn wissend an. "Erklären wir dir später. Jetzt sollten wir erstmal von hier verschwinden, bevor die süße, kleine Samantha zurück kommt und sieht, dass du von den Toten auferstanden bist." Tom stutzte und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Als der auf Josh traf, weiteten sich seine Augen. "Du?! Ich hab dir doch gesagt, dass du dich von mir und meiner Familie fernhalten sollst, du Freak!!!"

Silver of MoonWhere stories live. Discover now