Kapitel 1 - 666

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Ein leises Pfeifen an meinem Ohr ertönt.

Sofort schnappe ich zu, doch bekomme es nicht zu greifen.

Weiter lasse ich die Augen geschlossen und versuche zu schlafen.

Wieder dieses leise Pfeifen und Pusten.

Blitzschnell schnappe ich dort hin, doch wiederholt schaffe ich es nicht, weswegen ich mich wütend aufsetze und nach hinten zur Rückbank unseres Autos sehe, auf der mein kleiner Bruder sitzt und mich kichernd ansieht. „Alfie!", meckere ich. „Hör auf mir dauerhaft auf die Nerven zu gehen, das ist unerträglich!"

Alfie, verschränkt gehässig seine Arme und hebt die rechte Braue, sieht mich durch die braunen Haare, die fast komplett seine braunen Augen verdecken, an. „Ich kann machen, was ich will."

„Wenn es bedeutet, mit diesem verdammten Strohhalm in mein Ohr zu pusten, dann nicht!"

Er streckt mir die Zunge raus und ich strecke ihm die Zunge raus.

„Hört auf", klingt sich mein Vater ein, der am Steuer sitzt und genauso miese Laune hat, wie ich. „Wir sind gleich da, benehmt euch bis dahin."

Nun schnauben Alfie und ich gleichzeitig auf und beleidigt sehe ich nach rechts aus dem Fenster, durch das ich schon eine Menge Autos sehen kann, aus denen Leute in meinem Alter mit ihren Eltern aussteigen. Auf ein Internat zu gehen, kann toll sein, man kann neue Leute kennenlernen und Spaß haben, interessante neue Lehrer bekommen – zumindest stand es so in der Broschüre, die Mom mir in die Hand gedrückt hat -, aber für mich gibt es im Moment nichts Schlimmeres. Ich wollte nie auf ein Internat und will es noch immer nicht. Aber Dad musste unbedingt umziehen und Alfies und mein Leben umkrempeln, als hätten wir vorher keins besessen. Wir sind ja nur Kinder, sagten unsere Eltern zu unserem Umzug und dem Vorschlag – viel mehr Befehl – auf ein Internet zu gehen, wir können noch viele neue Wege in unserem Leben einschlagen.

Von wegen.

Dad parkt auf dem riesigen Parkplatz vor dem Campus, auf dem Jugendliche mit Koffern und weinenden Erwachsenen rumlaufen. Ich werde gleich eine von ihnen sein, nur ohne den weinenden Erwachsenen, denn ich bin mir sicher, dass Mom und Dad froh sind, wenn Alfie und ich aus dem Haus sind. Wir sind definitiv keine Vorzeigekinder, waren wir nie. Könnte vielleicht der wahre Grund sein, weshalb wir hier sind.

„Hier." Dad drückt mir eine gelbe Karte in die Hand, nachdem wir unsere Koffer aus dem Auto geschleppt haben, vollkommen ohne seine Hilfe. Er schmeißt den Kofferraum zu. „Eure Zimmernummern stehen dort drauf, ihr werdet sie schon finden, so schwer ist es nicht, eine Karte zu lesen."

„Wie großzügig", murmle ich und sehe auf die Karte, auf der zwei Nummern stehen. „Ich stand sowieso noch nie sonderlich auf dramatische Abschiede."

„Dann sind wir schon zwei." Unser Vater stellt sich vor uns, betrachtet uns ein letztes Mal, zieht sich dann die Sonnenbrille auf. Er trägt ein scheußliches Hemd, mit scheußlichen Blumen darauf. Mein Zeichen, dass er und Mom noch heute in den Urlaub fliegen werden. „Ihr packt das, ihr seid tolle Kinder" – Lüge Nummer eins – „Ihr könnt jederzeit anrufen" – Lüge número dos – „Und wir werden euch holen, wenn es Probleme gibt." Oh, Überraschung, Lüge numéro trois.

Dann klopft er uns beiden unbehaglich und als würde er sich dazu verpflichtet fühlen, weil Väter tun solche Dinge bekanntlich, auf die Köpfe und im nächsten Augenzwinkern ist er schon davongefahren. Dramatische Abschiede sind wirklich nicht sein Ding.

Alfie und ich schnappen uns unseren Schiebekoffer und jeweils eine riesige Tasche zum Umhängen. Es wäre einfacher, wenn Dad uns geholfen hätte, aber trotzdem sind wir beide froh darüber, dass er gegangen ist.

Thanks, LeoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt