Kapitel 9 - Wir haben geatmet

2.1K 370 72
                                    

Schon wieder so ein kurzes Kapitel, ahhhh! Ich hasse es! Aber mir gehts heute echt nicht gut :(

Harry und ich sitzen um viertel nach eins morgens schweigend in der U-Bahn und fahren von der Bar zurück. Ich sehe aus dem Fenster, blicke allerdings wieder nur gegen eine vorbeiziehende dunkelgraue Wand, auf der ab und zu Graffiti zu sehen ist. Ich bin schrecklich müde, doch bin gleichzeitig wohl auf, ich könnte heute Nacht noch den Mount Everest besteigen. Zumindest psychisch, denn Gespräche mit Harry kann ich stundenlang führen. Zwar haben wir das noch nicht getan, aber ich bin mir sicher, er ist ein Mensch, mit dem du so etwas tun kannst.

Sein Bein berührt meins, weil wir so nah aneinander sitzen und es fühlt sich gut an. Der Stoff seiner kurzen Jeans reibt an meiner nackten Haut, doch das stört mich nicht.

„Kannst du mir eine Frage beantworten, ohne das Thema zu wechseln?", frage ich Harry nach einer stillen Weile, sehe aber immer noch aus dem Glas, er sieht nach vorne.

„Das sage ich dir gleich", antwortet er und er klingt noch lange nicht so müde wie ich. „Stell sie mir."

„Gibt es ..." – Ich denke nach – „Gibt es irgendwann einen Punkt bei dir, an dem du aufhörst jeder zweiten Frage aus dem Weg zu gehen, sondern sie ehrlich zu beantworten?"

„Das ist eine ziemlich persönliche Frage."

Ich habe das Gefühl, er will hiermit wieder der Frage aus dem Weg gehen, deswegen lasse ich nicht sofort locker. „Gibt es diesen Punkt?"

Harry schweigt für einen Moment, scheint nachzudenken. Man hört das Summen der Lampen in der Bahn, so still ist es. „Ich weiß es nicht", sagt Harry irgendwann. „Ich denke, das muss ich erst herausfinden, um deine Frage ehrlich beantworten zu können. Aber um zu deiner ersten Frage zu kommen: Ja, ich kann Fragen beantworten, ohne das Thema zu wechseln. Es ist keine Krankheit."

Ich sage nichts darauf, sondern lasse mich weiterhin sanft von der Bahn hin und her wippen, bis wir an der nächsten Station ankommen und Harry mich bis zu meinem Internat führt, allerdings nicht das Gelände betritt. Ein wenig enttäuscht davon, dass ich mich jetzt tatsächlich wieder in mein ödes Bett legen muss, um morgen einen noch öderen Schultag zu erleben, seufze ich und drehe mich zu Harry um, der vor mir stehen bleibt. Die Nacht war cool. Zumindest die coolste Nacht seitdem ich in Kalifornien bin.

Wir sehen uns an, doch niemand spricht. Es ist nicht unangenehm, ich denke einfach nur darüber nach, was ich von alledem halten soll und was ich von Harry halten soll, was als nächstes passiert und ob in Zukunft meine Nächte möglicherweise aus Harry bestehen werden. Es wäre nichts, was ich nicht tun würde. Ich würde alles tun, um hier in Kalifornien vergessen zu können, wo und in welcher Lage ich stecke.

„Ich könnte dich in Schwierigkeiten bringen", unterbricht Harry als erstes die Ruhe, seine Augen sind dunkel, er trägt wieder seine Kapuze, genauso wie ich, damit wir nicht sofort erkannt werden. „In ziemlich heftige Schwierigkeiten."

Verwirrt runzle ich die Stirn und warte darauf, dass er sich erklärt.

„Wir könnten jederzeit erwischt werden", redet er weiter. „Von allem und jedem. Und dann stecken wir in Schwierigkeiten."

Ich begreife schnell, was er meint, aber lasse mich davon nicht abschrecken. Ich weiß, dass es Ärger gibt, wenn herauskommt, dass wir nachts unsere Internate verlassen. „Soll das eine Abfuhr werden?", frage ich ihn, versuche aber amüsiert zu klingen, obwohl ich hoffe, dass es keine Abfuhr werden soll.

Harry schüttelt den Kopf und seine Mundwinkel heben sich vage. „Nein, leider nicht. Ich will dir damit sagen, dass auch wenn viel Scheiße passieren kann, ich dazu bereit bin, diese Scheiße passieren zu lassen. Das kann ein Problem bedeuten, aber ich sehe darüber hinweg, auch wenn es für dich ein Problem bedeutet. Ich bin zu egoistisch, um zu sagen, dass ich aufhören werde, dich interessant zu finden und Zeit mit dir zu verbringen, nur weil ich nicht will, dass du in Schwierigkeiten kommst."

Ich lächle mäßig und bin erstaunt darüber, wie die Tatsache, dass er mich interessant findet, ein mädchenhaftes Verlangen nach einer weiteren Nacht mit ihm hervorruft. „Ich hätte es egoistisch gefunden, wenn du gerade deswegen gesagt hättest, dass so etwas wie gerade nicht noch einmal passieren wird. Wir sollten versuchen diese 'Scheiße' nicht passieren zu lassen."

Er betrachtet mich für ein paar Sekunden einfach nur. Dann geht er einen Schritt zurück. „Wird der nächste Zufall bald kommen?"

Ich bleibe stehen, während er sich rückwärts immer mehr von mir entfernt. „Ich denke, das haben wir nicht zu bestimmen."

Ich erkenne, wie er mehr grinst, aber nie so sehr, dass seine Zähne gezeigt werden. „Gute Nacht."

Ich grinse, als er sich von mir wegdreht zur Straße läuft. „Gute Nacht."

Als er gerade einen Schritt über den Beton machen will, hält er inne und dreht sich noch einmal um. „Ich habe auch eine Frage", ruft er mir zu und ich horche aufmerksam. „War es das beste erste Date des Planeten?"

Amüsiert lache ich leise auf und gehe rückwärts einen Schritt zum Internat. „Wir hatten nicht das erste beste Date des Planeten", rufe ich zurück. „Ich nenne es anders, weißt du noch?"

„Aber ich weiß nicht, wie!"

„Du willst es wissen?"

Er sagt nichts, wartet ab.

Ich entferne mich weiter von ihm. „Wir haben geatmet", offenbare ich meine Betitlung für dieses Treffen. „Wir haben einfach Sauerstoff geatmet!"

Harry ist still, sieht mir nur hinterher und regt sich nicht. Er wird nur von einer Laterne beleuchtet und kurz denke ich, dass er einfach gehen wird, weil ich zu weit weg bin, doch er ruft, als er einen Schritt auf die Straße macht: „Danke, Leo!"

„Wofür bedankst du dich?", frage ich verwirrt.

Ich sehe sein Grinsen, er ist schon auf der anderen Straßenseite und dann geht er meiner Frage aus dem Weg, indem er verschwindet.

Seufzend lasse ich die Schultern hängen und laufe in das große Gebäude. Leise schleiche ich durch die Flure und hoffe, dass mich niemand erwischt, dann komme ich auch schon bei meinem Zimmer an und schließe es auf. Conso grummelt auf, als ich so still wie möglich die Tür schließe. Sie soll nicht aufwachen.

Ich laufe auf Zehenspitzen zu meinem Bett, nachdem ich mir die Schuhe von den Füßen ziehe. Ein Pullover landet auf dem Boden und ich lege mich wohltuend in mein Bett, bin doch endlich froh, schlafen zu können, auch wenn nun ständig grüne Augen in meinem Kopf herumspuken.

Gerade als ich denke, ich könnte ein verdammter Ninja sein, weil mich niemand bemerkt hat, höre ich Conso sprechen. „Man", murmelt sie verschlafen und wellert sich in ihrem Bett. „Wo warst du?"

Mein Herz bleibt stehen. Ich bin wohl doch kein Ninja. „Ähm", sage ich unsicher. „Auf einer Skala von eins bis zehn, wie vertrauenswürdig bist du?"

„Leo", brummt sie genervt. „Sag mir, wo du warst oder es ist vorbei mit dem Vertrauen."

„Ich war bei Harry", antworte ich wahrheitsgemäß, weil ich Conso tatsächlich nicht als Petze einstufe. Sie ist loyal, das weiß ich.

„The fuck?" Sie gähnt und bleibt still liegen. „Keine Zeit, um dich zu fragen, warum, aber wir werden darüber sprechen. Gute Nacht."

„Gute Nacht."

Thanks, LeoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt