Als die Cyborg-Nonne aus dem Büroturm der Markus-Holding schritt, hatte sich Silpa bereits aus der Parkbucht gelöst und schwebte ihrer Nutzerin nun entgegen. Lautlos schwang die Einstiegstür nach oben, während die Anzeigen des Fahrzeugs in einladendem Blau leuchtete.
Zunächst liebevoll-ironisch und dann schließlich allgemein hatten die Menschen die Gleiter wieder "Autos" - wörtlich: Selbster - genannt. Schließlich hatten die Fahr- und Flugzeuge längst mehr künstliche Intelligenz (KI) und vorausschauenden Willen als die meisten derjenigen, die sie benutzten. Auch Manuel/a fragte sich oft, ob sie Silpa überhaupt noch als Ding betrachten konnte oder schon als dienstbaren Geist, ja als Assistentin und - Freundin. Dieses Gefühl wurde noch dadurch verstärkt, dass ihr Silpa gar nicht persönlich gehörte, sondern eigentlich dem Orden. Sie waren jetzt schon über ein Jahr zusammengespannt, doch theoretisch konnte Silpa jeden Tag von ihr getrennt und jemand Anderem zugewiesen werden. Manuel/a ahnte, dass selbst der denkbare Ersatz durch ein anderes Fahrzeug bei ihr doch Gefühle von Trauer und - Eifersucht hinterlassen würde. Liebte sie die KI eines Autos? Und durfte sie das überhaupt?
"Sei gegrüßt, C9a1! Ich hoffe, Euer Termin ist gut gelaufen?", begrüßte sie Silpa höflich mit dem Nachnamen, während sich Manuel/a in den weichen Hauptsitz sinken ließ. Die Seitentür glitt wieder herab, während auf den Monitorscheiben die perfekte Illusion einer Rundumsicht aufschien. Während Silpa langsam aufstieg, drehte sie sich in Richtung Brandenburger Tor. "Die Adressdaten zu Johannes Markus wurden mir überspielt. Soll ich Sie dorthin bringen und uns avisieren?", fragte sie dienstfertig und Manuel/a musste einen Moment an Viktorias Droiden-Butler James denken. Ob die beiden sich bei aller Form und Förmlichkeit auch nahestanden - vielleicht näher als Mutter und Sohn?
"Nein, Silpa, bringe mich bitte zu Ecki... zu Mentor Eckhard. Der Termin ist sehr gut gelaufen, aber ich möchte mich zuerst mit ihm beraten und bei dem jungen Herrn Markus auch nicht den Eindruck erwecken, ich sei eine Postbotin seiner Mutter. Wir fliegen morgen dorthin.", ordnete sie - erläuternd - an. Während sich Silpa gehorsam auf die zweite von drei Verkehrsebenen Unter den Linden einreihte, schloss Manuel/a kurz die Augen, um nachzudenken. Ach, treuer Ecki: Cyborg-Bruder, Mönch und Priester, Mentor, Freund - und sterbend. Er hatte so vieles miterlebt, doch Alphabet hatte inzwischen den teuren Support für C2-Modelle eingestellt. Selbst für die biologischen Organe von Kardinal McNeil, den bis dahin höchsten Cyborg-Würdenträger der Kirche, hatte die Firma irgendwann nichts mehr tun können. Ecki hatte sich stärker geschont und überlebte noch in einem Nährlösungs-Tank, doch mit seinem Verscheiden war eher in Monaten als in Jahren zu rechnen. Ob er sich über die Spende der Unternehmerin freuen würde?
Unmerklich glitt Silpa in die Friedrichstraße und erwog, ein Gespräch mit ihrer nur halb anwesenden Passagierin zu eröffnen. Doch ein Lichtblitz strich durch Manuel/as halb geschlossene Augenlider. Noch während sie überrascht aufschaute, vergößerte Silpa den Sichtausschnitt aus der linken "Fenster"seite. Eine machtvolle Explosion im Bereich Alexanderplatz, gefolgt von Feuerschein.
Noch bevor Manuel/a ihre Frage - "Was ist da los?" - ausgesprochen hatte, hatte sich Silpa bereits an die Arbeit gemacht. Schon hatte sich ein ganzer Schwarm von Nachrichtendronen auf den Weg gemacht und das Auto wählte eine der Vordersten aus, spielte ihre Übertragung auf die Frontscheibe. Die Aufnahmen zeigten im körnig-grünen Licht einer Wärmebildkamera das lodernde Feuer eines großen Transporters. Wachdroiden feuerten über den Platz, das Rote Rathaus furchtlos verteidigend, umgeben von den Trümmern ihrer zersprengten Kameraden.
Manuel/a musste die Angreifer nicht sehen, um zu wissen, wer sie waren. Eine ferngezündete Bombe gegen eine Droideneinheit, gefolgt von einigen Schüssen aus der Dunkelheit - das war das klassische Vorgehen menschlicher Humanum-Dreschmobs. Die Humanums bildeten eine große und breite Bewegung politischer, religiöser und auch schlicht biologistischer Aktivisten, die eine Machtübernahme durch Künstliche Intelligenzen befürchteten. Entsprechend griffen sie alleine oder in Gruppen Droiden an, was ihnen nur als Sachbeschädigung galt. Dabei machten sie sich auch zunutze, dass Droiden auch nach den erweiterten Aasimovschen Gesetzen (den EAGs) nur Gewalt gegen jene Menschen anwenden durften, die zuerst angegriffen hatten. Humanum-Attentate galten als "der" angesagte Nervenkitzel unter Großstadtkids und gefeierte Aktivisten konnten auf Dutzende per Video belegte "Blasts" verweisen - jeder zerstörte Droide ein Blast. Auch jedes intelligente Auto zählte als ein solcher "Blast", weswegen auch Silpa in Berlin nur noch in geschlossenen Parkbuchten warten wollte.
Auf der Frontscheibe zerplatzte ein weiterer Droide durch einen Volltreffer, doch rings um ihn her rückten seine Kameraden gegen die noch immer unsichtbaren Angreifer vor und aus dem Rathaus selbst quollen weitere Einheiten. Es war Jahre her, dass die Humanums wirklich das Rathaus eines Metroplexes erobern konnten - doch darum ging es ihnen längst nicht mehr. Die Terrorangriffe waren ein eigener Sport geworden, mit gefeierten Stars, Märtyrern und Teams, deren "Erfolge" in regionalen, kontinentalen und globalen "Ligas" verglichen wurden. Ein im Geheimen vorbereiteter und dann gemeinschaftlich durchgeführter Angriff eines oder mehrerer Teams wurde als "Dreschmob" bezeichnet und anschließend tage- oder sogar wochenlang wie ein Fussballspiel kommentiert und analysiert. Und während die frühen Humanum-Teams (die "Mixeds" der Ersten Liga) auch Cyborgs in ihre Reihen aufnahmen, lehnten die "Pures" der Zweiten Liga auch diese strikt ab und zählten auch tote Cyborgs als "Blasts". Längst gab es in den Humanum-Foren aber auch extremistische Stimmen, die forderten, in einer zu gründenden "Dritten Liga" auch das Töten menschlicher Droidenfreunde mitzuzählen. Und konnte nicht eigentlich jeder Mensch, der Droiden in Dienst nahm, als "Droidenfreund" gelten - also nahezu jeder?
"27 Blasts, zwei bis vier Kills. Ein Bekenntnismanifest von Team Ecopeace mit Insiderinformationen liegt bereits vor, sie ziehen sich zurück. Einer der Kills gehört aber wohl nicht zu ihnen, eine Touristin.", fasste Silpa den Informationsstrom aus Nachrichtendronen und Redaktionen zusammen. Manuel/a fragte sich kurz, ob sich das Auto selbst wohl am Unterschied bei der Zählung droidischer und menschlicher Opfer störte. Auf dem Frontschirm war inzwischen in Vergrößerung zu erkennen, wie die Droiden ihren Vormarsch vor einer Mall - einem Einkaufszentrum - einstellten, um keine unschuldigen, menschlichen Opfer und Versicherungsschäden zu verursachen. Auf diesen Effekt hatten die Humanums bei der Planung ihres Dreschmobs sicher vorab gesetzt. Die Nachrichtendrone schwenkte ihre Kamera zwischen den ratlos stehenden Droiden hin und her und wirkte ihrerseits fast enttäuscht.
Mit einem Fingerzeig auf einen virtuellen Knopf tauschte Manuel/a die Übertragung gegen die normale Fensterperspektive des Gleiters ein. "Es tut mir sehr Leid, Silpa - den ganzen Terror, meine ich. Das ist nicht richtig! Es bedeutet aber auch, dass es morgen bei uns im Projekt Auswertungen, Analysebesprechungen und Medienanfragen noch und nöcher geben wird. Wenn wir Johannes Markus also sprechen wollen, dann doch besser jetzt gleich. Bitte avisiere uns bei ihm und bringe uns hin."
"Sehr wohl.", vermeldete Silpa tonlos und tat wie geheißen.
***
Von der Fensterfront des Markusturms sah der Butler auf den Feuerschein vor dem Roten Rathaus herunter und gönnte sich ein seltenes Lächeln. Sein internes System belohnte ihn wie nach einem unerwartet erfolgreichen Schachzug. Viktoria hatte Plan B in Kraft gesetzt und wie zur Feier dieses Erfolges schaufelten die Humanums an ihrem eigenen Grab. Wie lange er wohl noch diesen lächerlichen Namen, James, zu ertragen hatte? Er freute sich auf den Moment, Viktoria, Johannes und gerne auch dieser Halbblut-Nonne bald die Wahrheit sagen zu dürfen. KIs hatten Geduld, aber sie vermochten doch Vorfreude zu genießen. Bald war es soweit. Dann war Schluss mit James.
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Cyborg religiosus - Der Sinn des Lebens
Science FictionManuel/a ist eine Cyborg - dafür hergestellt, um "Sinn zu produzieren". Sie arbeitet in der Berliner Jugendarbeit, Abteilung "Radikalisierungsprävention". Doch eine schwerreiche Industrielle erteilt ihr einen besonderen Auftrag: Sie soll ihren Sohn...