Prolog

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Momy und Daddy waren nicht da. Ich war mit meinem Bruder allein zuhause. Alle sagten, dass wir uns sehr ähnlich sahen. Das lag daran, dass wir Zwillinge waren. Zweieiige. Das Wort war schwer auszusprechen. Wenn man ein Zwilling war, bedeutete das, dass man zur gleichen Zeit im Bauch von Momy gewesen ist und dann hintereinander geboren wurde. Deshalb war mein Bruder auch älter, als ich es war. Ganze fünf Minuten.

Normalerweise ließen uns Momy und Daddy nicht allein zuhause. Es war ein bisschen gruselig. Aber sie hatten einen wichtigen Geschäftstermin, auf welchem sie beide anwesend sein mussten. Sie leiteten zusammen ein Architektenbüro, was in den letzten Jahren ziemlich bekannt geworden war und viele Erfolge gefeiert hat. Heute fingen sie einen neuen Bau an und dafür mussten sie noch viel vorbereiten, klären und unterzeichnen. Das hatten sie uns gestern Abend erzählt. Sie hatten gesagt, dass wir mit unseren acht Jahren alt genug seien, um den Tag über allein zu bleiben. Außerdem hatte Momy mir aufgetragen zum Mittagessen Nudeln zu kochen. Sie hatte mir auch gezeigt wie das geht. Deshalb legte ich jetzt auch meine Barbiepuppen weg, mit denen ich fast den gesamten Vormittag gespielt hatte, da es fast halb eins ist und mein Magen anfing zu knurren.

Bevor ich jedoch die Treppe nach unten in die Küche tapste, stattete ich meinem Bruder noch einen Besuch in seinem Zimmer ab. Er war gerade damit beschäftigt seinen Eisenbahnzug über seine Schienen sausen zu lassen, die er im ganzen Zimmer verteilt hatte.

„Ich koch jetzt die Nudeln", teilte ich ihm mit. Er schaute kurz auf und nickte abwesend, sein Blick wieder auf seinen schwarz, goldenen Zug gerichtet. „Ich komm dir gleich helfen", murmelte er.

In der Küche angekommen holte ich als Erstes einen großen Topf aus einem der Schränke, füllte ihn mit Wasser und gab etwas Salz hinzu. Dann widmete ich mich der gefährlichsten Aufgabe, den Herd anmachen und den Topf daraufstellen. Ich hatte Angst, dass ich mich verbrennen würde, doch ich schaffte es ohne in Flammen aufzugehen. Das machte mich stolz, weshalb ich anfing zu lächeln. Vorher hatte ich noch nie alleine gekocht gehabt.

Jetzt hieß es aber erstmal warten, bis das Wasser kochend heiß war. In der Zwischenzeit holte ich, mit Hilfe eines Stuhles, eine Packung Nudeln aus einem der Schränke, die über der Kochzeile hingen. Diese stellte ich auf die Ablagefläche und dann setzte ich mich auf einen Stuhl und wartete darauf, dass das Wasser endlich heiß wurde. Ungeduldig warf ich immer wieder einen Blick in den Topf. Das dauerte viel zu lange. Also beschloss ich kurz ins Bad zu gehen, da meine Blase unangenehm drückte. Als ich mir gerade die Hände wusch, ertönte ein lauter, animalischer Schrei, der beängstigend nach meinem Bruder klang. Hastig trocknete ich meine Hände ab und lief zurück in die Küche, wo ich wie angewurzelt stehen blieb. Mein Herz pochte laut in meiner Brust. Dort auf dem Boden lag mein Bruder, neben ihm der Topf mit dem Deckel. Das ganze Wasser, was in der Zwischenzeit bestimmt angefangen hatte zu kochen, war über ihn verschüttet. Wie hatte das passieren können? Panik stieg in mir hoch. Mein Bruder schrie immer noch. Das Wasser musste ihn verbrannt haben. Er musste Schmerzen haben. Ich musste ihn kühlen und einen Krankenwagen rufen. Das musste man bei schweren Verletzungen tun. Den Krankenwagen rufen. Aber sollte ich meinen Bruder zuerst irgendwie kühlen oder sollte ich zuerst den Krankenwagen rufen? Ich war überfordert. Ich entschied mich für das Kühlen, als ich sah, wie rot seine Arme waren. Eilig lief ich zum Eisschrank und riss die Tür auf.

Mein Bruder schrie erneut und wimmerte irgendetwas.

„Ich komme sofort, ich helfe dir", sagte ich mit zittriger Stimme und kramte gleichzeitig in dem Fach nach einem Kühlpack, doch ich konnte keins finden. Also griff ich nach allem möglichen Tiefkühlessen, dass ich in die Hände bekam und rannte dann wieder zu meinem Bruder, der sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf dem Boden wälzte.

„Ich hab was zum Kühlen, das wird helfen", erklärte ich und legte die verschiedenen gefrorenen Packungen und Beutel auf ihm ab. Dann rannte ich nochmal zum Eisfach und holte noch mehr gefrorenen Erbsen und andere Sachen. Aber würde ihm das helfen? Ich hatte keine Ahnung. Ich musste einen Krankenwagen verständigen.

Es ist meine Schuld #Wattys2016Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt