Kapitel 5

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Luis

Ihr erschrockener Ausdruck würde mir wahrscheinlich für immer in Erinnerung bleiben. Es war nicht schwer zu erraten, was auf sie zukommen würde. Meine Mutter schien fuchsteufelswild zu sein. Bedrohlich erhob sie sich, während Elena ihren Kopf und ihre Schultern einzog.

„Du nutzloses Stück Dreck!", schrie unsere Erzeugerin und verpasste ihr im nächsten Moment einen kräftigen Schlag mit ihrer offenen Handfläche. Meiner Schwester riss es den Kopf zur Seite und sie taumelte leicht. Ihre andere Wange leuchtete jetzt genauso wie ihre andere. Mir wurde schlecht. Ich musste ihr helfen, ich musste etwas tun. Doch was? Wenn ich mich einmischte, würde alle nur noch viel schlimmer werden und das wollte ich nicht. Sie packte Elena grob am Oberarm und rammte hier Faust in ihre Magengegend. Leise stöhnte sie auf und krampfte sich zusammen. Meine Mutter stieß sie hart gegen die Wand und fing an sie mit ihren Händen und Fäusten zu bearbeiten. Geschockt schaute ich zu. Es passierte nicht allzu oft, dass meine Mutter so derartig ausrastete und jemand anderes außer ihr und Elena im Raum war, weshalb ich so eine Szene schon lange nicht mehr gesehen hatte. Als ich ein leises, klägliches Wimmern vernahm, was mir körperliche Schmerzen bereitete, sprang ich von meinem Stuhl auf. Ich konnte das nicht länger mitansehen.

„Stopp! Hör auf", schrie ich, doch sie war zu sehr damit beschäftigt, meiner Schwester Beleidigungen und Drohungen an den Kopf zu werfen, als das sie mich hätte hören können. „Du sollst aufhören", brüllte ich erneut, doch wieder ging sie nicht auf mich ein. Dafür legte sich eine Hand auf meinen Unterarm, die mich nach unten zog, bis ich wieder saß. Mein Vater schaute mich interessiert an. Bestimmt fragte er sich, seit wann ich Partei für meine Schwester ergriff.

„Es ist sehr ehrenhaft von dir, dass du ihr helfen möchtest, aber sie hat einen Fehler gemacht und muss dafür bestraft werden", erklärte er mir sachlich. Die Luft wich aus meinen Lungen und ich starrte ihn fassungslos an. Wie hatte ich nie erkennen können, was für Monster mich großgezogen hatten? Wie konnte mein Vater sagen, dass meine Schwester es verdient hatte, so behandelt zu werden, nur, weil sie etwas Wasser verschüttet hatte?

In der Zwischenzeit hatte meine Mutter ihr noch mehr Schläge verpasst und zog sie gerade an den Haaren zu sich heran, nur, um sie wieder gegen die Wand zu schmettern. Diesmal gaben die Beine meiner Schwester jedoch nach und sie ging zu Boden, wo ein Tritt nach dem anderen auf sie einprasselte. Ich konnte gar nicht beschreiben, wie es mir ging. Ich hasste mich dafür, dass ich nichts dagegen unternahm, doch ich war mir sicher, dass meine Mutter nur noch mehr ausrasten würde, wenn ich probierte Elena zu schützen. Und was würde es bringen, wenn ich ihr jetzt half, meine Mutter sie dann aber noch viel krasser auf dem Kicker hatte? Irgendwann, nach einer Ewigkeit, wie es mir schien, stellte meine Mutter jegliche Gewalt ein.

„Verschwinde in dein Zimmer. Ich will dich heute nicht mehr sehen, ist das klar?! Du kannst hier aufräumen, wenn wir zu Bett gegangen sind", zischte sie kalt und setzte sich dann, mit einem Lächeln, an den Tisch.

„Also Luis, was gibt es neues bei dir in der Schule?", fragte sie, als ob nichts etwas vorgefallen wäre.

Elena

Obwohl ich schon am Boden lag, trat sie weiterhin auf mich ein. Mir tat alles so unglaublich weh. Mein Körper schien nur noch aus Schmerzen zu bestehen und ich war mir sicher, dass sie mir eine Rippe geprellt hatte. Wann hörte sie endlich auf? Am Rande meiner Wahrnehmung, hatte ich mitbekommen, wie mein Bruder etwas geschrien hatte. Ich glaube so etwas wie, dass meine Mutter aufhören sollte oder so, aber ich war mir nicht ganz sicher. Mein Kopf fühlte sich wegen der vielen Schlägen seltsam an, obwohl ich die Arme inzwischen schützend um ihn geschlungen hatte. Ich keuchte leise, als ihr nächster Tritt mich traf. In den letzten Jahren hatte ich gelernt, wie ich solche Situationen überstehen konnte, ohne die ganze Zeit vor Schmerzen zu schreien. Nach unendlich langer Zeit hörte sie auf und befahl mir in mein Zimmer zu gehen. Nichts würde ich lieber tun als das, doch ich hatte keine Ahnung, wie ich das schaffen sollte. Wie sollte ich meinen geschundenen Köper auch nur ansatzweise bewegen können? Trotz all der Schmerzen, probierte ich so schnell wie möglich aufzustehen, wofür ich mich an der Wand abstützte. Dann setzte ich langsam einen Schritt vor den anderen, stützte fast mein ganzes Gewicht auf der Wand neben mir ab. Stückweise kam ich voran, wobei ich mich voll und ganz darauf konzentrierte nicht wieder umzufallen. Im Hintergrund hörte ich meine Familie, die sich munter unterhielt, als ob nicht gerade ein klapperdürres Mädchen aus ihrem Esszimmer hinkte, weil es soeben zusammengeschlagen worden war. Im Flur angekommen, schloss ich die Tür hinter mir und setzte mich dann auf ein neues in Bewegung. Jetzt, wo ich mich nicht mehr im selben Raum, wie meine Mutter befand, viel eine große Anspannung von mir ab und ich wurde langsamer in meinen Bewegungen. Ich beobachtete meinen Zeigefinger, der die Wand in einem Schneckentempo entlangfuhr, doch es war besser, ihn zu betrachten, als meine Füße, die sich nur in Millimeterabständen bewegten. Nach einer Ewigkeit erreichte ich schließlich die Treppe, die mich zu meinem Zimmer in der ersten Etage hochführen würde. Doch wie sollte ich die Treppe hochkommen? Wie sollte ich das schaffen? Mir war ein wenig schwindelig, doch ich hob vorsichtig einen Fuß an und setzte ihn auf der ersten Treppenstufe auf. Als ich den Rest meines Körpers nachziehen wollte, gaben meine Beine jedoch unter mir nach und ich fiel hart auf die Stufen. Tränen traten mir in die Augen, doch ich konnte noch nicht weinen, sie würden mich hören können. Langsam fing ich an die Treppe hochzukriechen, da ich eingesehen hatte, dass es nichts bringen würde, zu versuchen erneut aufzustehen. Ich hatte keine Ahnung wie lange ich brauchte, um die gesamte Treppe hochzukommen, doch irgendwann hatte ich es geschafft. Keuchend holte ich tief Luft und ruhte mich ein wenig aus, bevor ich mich kriechend weiter zu meinem Zimmer zog. Das Atmen war ein wenig beschwerlich geworden und mir war unglaublich heiß, was zusammen mit all den unterschiedlichen Schmerzen, eine nicht so tolle Mischung war. Endlich lag ich vor meiner Zimmertür. Ich streckte mich mit all meiner letzten Kraft ein wenig hoch, um den Türgriff zu umfassen und die Tür zu öffnen, bevor ich wieder in mich zusammenfiel. Zentimeter für Zentimeter kämpfte ich mich zu meiner Matratze vor, nachdem ich die Tür hinter mir geschlossen hatte. In diesem Moment war ich unglaublich froh darüber, dass mein Zimmer nur so klein war, denn so war ich schnell bei meiner Matratze angekommen, wo ich mich auf die Seite mit den unverletzten Rippen legte und meine Beine anzog. Dann ließ ich meinen Tränen, die sich den ganzen Tag über schon in mir aufgestaut hatten, freien Lauf. Und ab da gab es kein Halten mehr. Ein lauter Schluchzer folgte dem nächsten und ich weinte mir die Seele aus dem Leib. Wie lange ich heulte, konnte ich nicht sagen. Vielleicht zehn Minuten, vielleicht aber auch 30 oder 60 Minuten. Die Schmerzen wurden nicht weniger und ich wusste, dass meine seelischen Schmerzen nie verschwinden würden. Für diese gab es nämlich keine Heilung. Ich wusste, dass ich es verdient hatte, bestraft zu werden, aber wieso musste meine Mutter es so oft und mit so unglaublich viel Kraft tun?

Es ist meine Schuld #Wattys2016Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt