Kapitel 4

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Luis

Besorgt blickte ich ihr hinterher, als sie fluchtartig der Raum verließ, ohne ihren Satz zu Ende gesprochen zu haben. Ich seufzte. Mich hätte es gefreut, wenn sie mit uns eine Runde gespielt hätte, doch mir war zu spät eingefallen, dass sie andere Verpflichtungen hatte, die normalerweise ein Elternteil übernehmen sollte und nicht ein Kind ganz alleine. Wenn ich ihr nur helfen könnte... Doch das würde sie niemals zulassen und wenn unsere Mutter mich dabei sehen würde, wie ich zum Beispiel das Abendessen vorbereitete, würde sie ausrasten und meiner kleinen Schwester wieder etwas antun.

„Ist alles in Ordnung mit ihr?", Jayden's Blick war ihr ebenfalls aus dem Raum gefolgt. Ich zuckte mit den Achseln. „Ich weiß nicht", erklärte ich. Sie wirkte so, als ob alles okay sei, doch in Wahrheit war sicherlich überhaupt nichts in Ordnung. Ihr Leben war die reinste Hölle.

„Sie wirkt ein wenig verstößt und so... schüchtern", sagte er nachdenklich.

„Ich weiß", erwiderte ich und studierte meinen Kumpel von der Seite aus. Seine Augen wirkten besorgt und er hatte leicht die Stirn gerunzelt. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, wieso ihm das Wohlergehen meiner Schwester so interessierte. Auch in der Schule blickte er ihr andauernd hinterher und er hatte schon mehr als einmal gesagt, wie scheiße er es von Ben fand, dass er sie immer so demütigte.

„Ich weiß, was sie dir angetan hat und ich kann mir vorstellen, dass es nicht leicht ist, unter solchen Bedingungen, zusammenzuleben, aber sie hat es nicht verdient, so in der Schule behandelt zu werden. Das kann doch nicht spurlos an ihr vorbeigehen. Außerdem ist die Sache schon Jahre her und sie war damals noch ein kleines Kind. Sie hat sich verändert, genauso, wie wir uns verändert haben", erklärte er.

Zustimmend nickte ich mit dem Kopf und dachte daran, dass Jay nur davon wusste, wie schlecht man sie in der Schule behandelte. Er wusste nicht, dass man sie hier zuhause noch viel schlechter behandelte, doch ich konnte mir vorstellen, dass er sich denken konnte, dass meine Eltern nicht allzu gut auf sie zu sprechen waren. Dafür hatte er schon zu viele Schreianfälle meiner Mutter gegenüber meiner Schwester in den letzten sechs Monaten mitbekommen.

„Es war ein Unfall", ohne zu überlegen hatte ich es ausgesprochen. Kurz bereute ich es, doch dann sah ich ein, dass es das Richtige gewesen war, es ihm zu sagen. Jayden war mein bester Kumpel, ich konnte mich zu 100 % auf ihn verlassen.

„Was?", er schien verwirrt zu sein.

Seufzend legte ich meinen Joystick weg.

„Sie hat mir damals kein kochendes Wasser über den Körper geschüttet. Es war ein Unfall gewesen", und dann erzählte ich ihm die ganze Geschichte, ließ den Teil jedoch weg, wo meine Eltern, meine Schwester misshandelten. Das musste vorerst noch in Geheimnis bleiben.

„Wow", er schaute mich sprachlos an. „Ich hab mich die ganze Zeit gefragt, wieso ein achtjähriges Mädchen so etwas tun sollte, wenn es nicht irgendwelche geistigen Probleme hat, was ich bei deiner Schwester definitiv ausschließen kann. Aber oha... Wieso erzählt dann jeder, dass es so gewesen ist?"

„Ich hab keine Ahnung", erwiderte ich . „Meine Eltern... ich hab nicht den Hauch einer Ahnung wieso sie mir das all die Jahre lang weiß haben machen wollen. Ihretwegen hab ich fast zehn Jahre damit verschwendet, meine Schwester zu ignorieren, dabei ist unschuldig. Sie hat sogar probiert mich zu kühlen und einen Krankenwagen gerufen und das mit acht Jahren! Sie war noch so jung und hat mir wahrscheinlich das Leben gerettet. Wer weiß was passiert wäre, wenn kein Krankenwagen gekommen wäre?"

„Jetzt tut sie mir erst richtig leid", murmelte er. „Wie kann man so boshaft sein, nichts gegen deine Eltern, aber gehts noch? Sind die noch ganz dicht im Kopf?!"

Es ist meine Schuld #Wattys2016Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt