Elena
Luis hatte keinen guten Eindruck gemacht. Er war ganz blass gewesen und hatte sich bei mir bedankt, etwas, was er vorher noch nie getan hatte. Hoffentlich war er nicht ernsthaft krank. Sobald ich förmlich aus dem Wohnzimmer geflohen war, begab ich mich zurück in die Küche, um das Abendessen zu Ende vorzubereiten. Heute Abend würde es Reis mit Gemüse geben. Allein bei dem Gedanken an Essen, lief mir das Wasser im Mund zusammen. Doch ich hatte keine Ahnung, ob ich überhaupt etwas abbekommen würde, ich konnte es nur hoffen. Die Toastbrotscheibe von heute Morgen hatte mich nicht lange gesättigt, weshalb mein Magen seit Stunden vor Hunger knurrte und mir der Bauch wehtat. Während das Gemüse in der Pfanne schmorte und der Reis kochte, ging ich schonmal den Tisch im Esszimmer decken. Dabei warf ich immer mal wieder, heimlich einen Blick auf Luis, der mit geschlossenen Augen auf der Couch lag und zu schlafen schien. Normalerweise blickte ich ihn nicht an, da sein Anblick mit zu vielen Erinnerungen und Schmerzen verbunden war, doch heute konnte ich mich nicht zurückhalten. Zum zweiten Mal an diesem Tag, wurde mir bewusst, wie krass ich ihn vermisste, obwohl er doch nur ein paar Schritte von mir entfernt lag. Ich seufzte und wandte mich schnell wieder ans Tisch decken. Drei Teller, drei Gläser und dreimal Besteck. Wenn man den fertig gedeckten Tisch sah, könnte man meinen, dass es nur ein Kind gab. Traurig verzogen sich meine Mundwinkel. Ich hatte seit sehr langer Zeit nicht mehr zusammen mit meiner Familie gegessen. Manchmal fragte ich mich, ob sie mich überhaupt noch als ein Mitglied dieser Familie betrachteten oder nur noch als das Mädchen, dass ihren gesamten Haushalt schmiss. Zum Schluss stellte ich die Pfanne mit dem Gemüse und die Schale mit Reis auf den Tisch, bevor ich leise zu dem Bürozimmer meiner Mutter schlich, anklopfte und darauf wartete, dass sie mich herein bat.
„Ja?", erklang ihre barsche Stimme. Mit eingezogenen Schultern trat ich ein. „Das Essen ist fertig", erklärte ich leise, mit Blick zu Boden.
„Gut", erwiderte sie kalt und machte eine Handbewegung, die mir verdeutlichte, dass ich den Raum verlassen sollte. Zurück im Esszimmer beziehungsweise dem Wohnzimmer fasste ich all meinen Mut zusammen und weckte meinen Bruder behutsam auf, indem ich ihn leicht an der Schulter rüttelte. Hoffentlich würde er nicht böse auf mich sein, weil ich ihn weckte, aber wenn ich es nicht tat, würde meine Mutter sauer auf mich, weil ich es nicht getan hatte und sie es stattdessen tun müsste.
„Es gibt Essen", erklärte ich ihm mit leiser Stimme. Über die Jahre hinweg war meine Stimme immer leiser und leiser geworden und ähnelte heute mehr einem Flüstern als einer normalen Lautstärke. Aber das war mir nur recht, wenn ich normal laut sprechen würde, würde mich jeder hören können und mir Aufmerksamkeit schenken, etwas, was ich vermeiden wollte. Er richtete sich auf und rieb sich müde über seine Augen.
„Okay", sagte er.
„Geht es dir gut? Brauchst du noch irgendetwas? Eine Tablette oder etwas anderes?", hakte ich vorsichtig nach, in der Hoffnung, dass ich ihn nicht nervte. Ich wollte nur, dass es ihm gut ging.
„Alles prima, aber danke", erwiderte er. Schüchtern warf ich ihm einen raschen Blick zu, bevor ich meinen Blick wieder senkte. Er hatte sich heute schon zweimal bei mir bedankt gehabt und er hatte seine Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln verzogen gehabt, als ich ihn gerade angeschaut hatte. Das letzte Mal, als er mir gedankt hatte, war Jahre her und angelächelt hatte er mich seit einer Unendlichkeit nicht mehr. Es machte mich glücklich, dass er heute so nett zu mir war, auch, wenn ich es wahrscheinlich nicht verdient hatte. Aber es tat gut, einmal nicht angeschrien zu werden.
„Geht es dir auch gut?", fragte er freundlich und stand auf. Überrascht schoss mein Blick nach oben und ich starrte ihn vollkommen perplex an. Er hatte immer noch ein Lächeln im Gesicht und musterte mich, als ob ihn meine Antwort wirklich interessieren würde. Doch ich war nicht im Stande ihm zu antworten, dafür hatte er mich zu sehr mit seiner Frage überrascht. Mich hatte seit fast zehn Jahren keiner mehr gefragt, wie es mir ging und normalerweise sprachen mein Bruder und ich überhaupt nicht miteinander. Als ich schließlich halbwegs aus meiner Schockstarre erwacht war, und ihm gerade antworten wollte, kam meine Mutter, gefolgt von meinem Vater, in den Raum stolziert. Schnell wandte ich den Blick wieder zu Boden und huschte zum Tisch, um ihnen ihre Getränke einzuschütten. Danach verzog ich mich in die Küche und kümmerte mich um den Abwasch, während meine Familie im Nebenzimmer speiste. Ab und zu vernahm ich ihr Gelächter oder hörte ihre so freundlich klingenden Stimmen. Dann traten mir immer fast die Tränen in die Augen, weil ich so gerne Teil von ihrer kleinen, fröhlichen Gruppe wäre.
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Es ist meine Schuld #Wattys2016
RomanceIch habe seit Jahren einen einzigen Wunsch. Ich möchte morgens aufwachen, mich vor den Spiegel stellen und keine einzige Verletzung, keinen blauen Fleck und keinen Bluterguss an meinem gesamten Körper vorfinden. Es war ein Unfall, oder? Ich erinnere...