~Wie schimmernder Schnee~

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Am nächsten Tag schien alles wie immer zu sein. Es war beinahe so als wäre der Vorfall mit Shiros Vater nie passiert. Als der Junge am Vormittag in die Küche kam, wurde er sowohl von seiner Mutter, als auch von seinem Vater mit einem freundlichen Lächeln begrüßt. Shiro selbst war noch ein bisschen unsicher wie er darauf reagieren sollte. Er setzte sich, noch etwas müde an den Tisch und gähnte leise.
Seine Gedanken wanderten zu seinem Freund. Er wollte ihm unbedingt einen Namen geben. Es musste ein wunderschöner, prachtvoller Name sein, etwas ganz besonderes. Im Gedanken versunken aß der Junge sein Frühstück.

»Ich habs! «, rief Shiro und sprang von seinem Bett auf. Er ging zum Schreibtisch und nahm das Bild, welches er vor einiger Zeit von dem Drachen gezeichnet hatte. Er betrachtete es lächelnd.
»Ich habe den perfekten Namen für dich. «, sagte er glücklich. Dann lief er los und verließ das Haus. Er machte sich auf den direkten Weg zum See, um sich mit seinem Freund zu treffen. Als er dort ankam wurde er jedoch bitter enttäuscht. Von dem kleinen Drachen fehlte jede Spur. Verunsichert sah Shiro um sich. Unsicher setzte er sich ans Seeufer und wartete. Sein Freund würde schon irgendwann auftauchen.
Er lehnte sich zurück und verschränkte seine Arme hinter dem Nacken. Ausdruckslos sah er zum Himmel hinauf. Es war so ruhig um ihn herum, dass er jedes kleinste Geräusch wahr nehmen konnte. Das plätschern des Wassers, das Rauschen des Windes, alles wirkte so beruhigend auf ihn. Bis nach kurzer Zeit ein weiteres Geräusch hinzu kam.
Shiro setzte sich schnell auf und sah verwirrt in die Richtung aus der es kam. Der Ursprung des Geräusches lag im Wald neben ihm. Es klang wie ein Schrei, schon fast ein herzzerreisendes Kreischen.
Mit ängstlichen Blick stand der Junge auf und ging auf den Waldrand zu. Was auch immer solch ein Kreischen von sich gab, musste wohl große Angst haben. Es klang panisch und schmerzerfüllt.
Shiro beschloss dem Geräusch zu folgen. Egal wer diesen Schrei von sich gegeben hatte, brauchte mit Sicherheit Hilfe und er wollte nicht tatenlos herum sitzen. Er ging in den Wald hinein, der mit jedem Schritt etwas dichter zu werden schien. Irgendwenn drangen nur noch wenige Sonnenstrahlen durch das dicht bewachsene Blätterdach der Bäume.
Nach einiger Zeit blieb der Junge stehen. Das Geräusch war nun direkt über ihm, also hob er den Kopf unsicher an. Seine Augen weiteten sich erschrocken. Der Ursprung des herzzerreißenden Kreischens war sein kleiner Freund, der einige Meter über den Boden in einem Netz festhing. Wie es aussah war er in eine Falle der Jäger getappt, die hier hin und ihre Fallen für Wildtiere aufstellten. Der kleine Drache wandte sich, trat und schlug um sich, dabei schrie er immer wieder laut und panisch.
»H-Hey! Ganz ruhig. Ich helfe dir! «, sagte Shiro schnell, doch der kleine Drache hörte ihn in seiner puren Panik nicht.
Der Junge fing an den Baum hinauf zu klettern. Da die Bäume in diesem Wald viele starke Äste hatten, stellte sich das Klettern nicht als äußerst schwierig heraus. Das eigentliche Problem war, dass er keine Ahnung hatte wie er seinen Freund aus der Falle heraus bekommen sollte.
Als er mit dem kleinen Tier auf Augenhöhe war, überlegte er wie er es anstellen sollte. Er versuchte den Knoten zu lösen und ihn so zu befreien, aber jeder Versuch war erfolglos. Auch an den Seilen zu zerren und zu reißen brachte rein gar nichts. Auch wenn es einige Zeit dauerte, kam ihm schließlich eine Idee. Der Drache hatte sich inzwischen etwas beruhigt und sah den Jungen an.
»Ich hab eine Idee! «, sagte Shiro motiviert. Er kletterte die paar Meter vom Baum herunter und kniete sich hin. Er sah sich den Boden suchend an.
»Hier muss doch irgendwo....Gefunden!! «
Shiro griff sich den spitzesten Stein den er finden konnte und kletterte wieder zu seinen Freund hinauf.
»Keine Sorge, bald bist du wieder frei. «
Mit diesen Worten begann er die Seile mit dem spitzen Stein zu durchtrennen. Es kostete mehr Arbeit als er erwartet hatte, doch schließlich rissen die Seile durch und sein Freund fiel zu Boden. Durch die ausgebreiteten Flügel wurde der Sturz zum Glück abgebremst und er landete relativ sanft. Shiro kletterte mit einem breiten Lächeln zu ihm hinunter. Er fühlte sich wie ein richtiger Held und fiel ihm sofort um den Hals. Er drückte sich so eng es ging an seinen Freund. Als sich der Junge wieder von ihm löste sahen sich die beiden in die Augen. Der Ausdruck in den Augen des kleinen Drachens war voller Dankbarkeit.
Plötzlich hörte man Schritte, die sehr schnell näher kamen.
»Lass uns gehen! «, flüsterte Shiro und verschwand mit seinen Freund so schnell es ging.

Die beiden lagen zusammen am Ufer des Sees. Shiros Kopf war mit friedlich geschlossenen Augen am Bauch des kleinen Drachen platziert, der in den rötlichen Sonnenuntergang blickte.
»Genau! Ich hätte beinahe etwas vergessen! «, sagte Shiro plötzlich, worauf ihn das kleine Tier ansah.
»Ich hab dir vor einiger Zeit versprochen, dass ich dir einen Namen geben werde. «
Auch wenn das Tier nicht antworten konnte, wusste der Junge dass es ihn genau verstanden hatte. Es sah ihn mit einem neugierigen, schon fast gespannten Blick an. Shiro betrachtete seinen Freund von oben bis unten bevor er weiter sprach. Die Schuppen des Drachen glänzten manche hellbau und manche schneeweiß in der untergehenden Sonne, sie spiegelten schon beinahe wie ein reiner Kristall.
»Es gibt eine Geschichte, die mir meine Mama früher immer erzählt hat. Sie ging ungefähr so... Der Horizont war immer stolz auf seine schöne Lichterpracht, jeder war neidisch auf seine strahlende Sonne, seine schimmernden Sterne und seinen leuchtenden Mond. Die Pflanzen, die Gewässer, die Tiere und die gesamte restliche Natur konnten nur davon träumen so wunderschön zu sein. Der Horizon lachte über all diese Wesen und sagte selbstsicher, es würde nie etwas geben was seiner Schönheit trotzen könne. Eines Tage geschah ein Wunder. Über Nacht hatte sich die Welt verändert und weiße Flocken fielen vom Himmel. Sie hüllten die Pflanzen wie eine schimmernde Decke ein und ließen alle Gewässer wie funkelnde Diamanten gefrieren. Der Horizont blickte voller Neid auf diese Pracht herab. Es war der erste Schnee, welcher jemals gefallen war. Weder seine strahlende Sonne, noch seine funkelnden Sterne oder sein leuchtender Mond konnte der Schönheit des Schnees trotzen. Umso mehr der Horizont versuchte zu erstrahlen, umso mehr schimmerte der Schnee in seiner vollen Pracht. Der Horizont gab sich irgendwann geschlagen und nannte seinen Rivalen mit voller ehrfurcht "Yukio", der schimmernde Schnee. Bis heute nennt man den ersten Schnee im Winter "Yukio",  denn man sagt er wäre das schönste Wunder dieser Welt. «
Die beiden Freunde sahen sich kurze Zeit an.
»Yukio, dieser Name passt zu dir. «, sagte der Junge lächelnd. Der kleine Drache sah ihn voller Zufriedenheit an, es wirkte als würde er sich geehrt fühlen. Dieser Namen war wie geschaffen für das kleine Tier. Denn seine Schuppen schimmerten prachtvoller als jeder Stern es jemals könnte.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Oct 12, 2016 ⏰

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