Sie konnte sich nicht daran erinnern, das Wunderland jemals in einem solchen Zustand gesehen zu haben. Von den Schirmen der riesigen Pilze tropfte das Blut auf die sich darunter befindenden Blumen und Kadaver. Von den Bäumen hingen Dodus an ihren Hälsen aufgeknüpft. Absolem, der inzwischen ein Schmetterling war, lag ohne Flügel auf dem Boden vor Alice; seine Flügel waren unter enormen Steinbergen begraben. Hilflos sah er zu ihr hoch, brachte aber kein Wort hervor.
Sie sah ihn entschuldigend an und ging an ihm vorbei. Je weiter sie sich von der Tür, durch die sie das Wunderland betreten hatte, entfernte, desto grausamer wurde der Anblick, der sich ihr bot.
Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen und sah sich aufmerksam um. Ob dem Drang, sich abzuwenden, glitten ihre Blicke über ein weites Feld. Über das Schlachtfeld, auf dem sie einmal gegen dem Jabberwocky gekämpft hatte. Dort lagen der Bandersnatch und der Jubjub Vogel. Alle enthauptet, wobei der Torso von beiden von ihnen hinter den aufgereihten Köpfen auf einen Stapel gehäuft gute hundert Meter von ihnen entfernt war. In ihren Gedanken wiederholte sie eine Strophe eines Gedichtes über den Jabberwocky, das sie irgendwann einmal gelesen hatte:
" »Und schlugst Du ja den Jammerwoch?
Umarme mich, mien Böhm'sches Kind!
O Freuden-Tag! O Halloo-Schlag!«
Er schortelt froh-gesinnt."Sie fragte sich immer mehr, ob das hier das Unterland oder die Spiegelwelt sei, in der sie sich gerade befand. Vielleicht sind beide verschmolzen und das Chaos und die Dunkelheit der Spiegelwelt hat sich auf das Unterland übertragen. Ihre Welt voller Wunder war den Bach runter gegangen. Tod, Leid und Elend hatten nun die Vorherrschaft.
Aus der Ferne vernahm sie den Befehl zur Enthauptung. Der Stimme und der Aufforderung nach ordnete sie ihn der roten Königin zu. Ein jeder schien getötet worden zu sein bis auf sie. Im Umkehrschluss muss sie dann diejenige gewesen sein, die alle hatte töten lassen.
Sie kämpfte sich durch das knöchelhohe Blut bis sie die Grinsekatze erblickte. Sie freute sich, dass noch jemand lebte.
"Wohin willst Du?", fragte die Katze.
"Zur roten Königin. Sie ist doch für all das verantwortlich, nicht?"
Die Katze grinste ehe sie antwortete:
"Dieses Mal scheinst Du zu wissen, wohin Du willst. Aber vergiss nicht, dies hier ist Dein Wunderland. Alles hier ist ein Teilvon Dir. Auch die rote Königin."Schelmisch grinsend verschwand das sprechende Tier und ließ Alice alleine.
Unbeirrt ging Alice weiter.
Sie kämpfte sich weiter durch das Meer unaussprechlicher Grausamkeiten; durch Kadaver, Extremitäten und Blutbächen, bis sie schlussendlich vor dem Schloss der Roten Königin ankam.
Hier stapelten sich Kartenwachen. Ob diese Stapel alle Decks ergaben? Sie musste schmunzeln ob dieses Gedankens und fragte sich, ob sie nun gänzlich den Verstand verloren hat, wenn sie in einer solchen Situation solche Gedanken haben kann.
Sie schritt durch das große Tor in das Foyer des Palastes. Hier bot sich kein anderes Bild. Wachen und Bedienstete lagen überall und das Blut stand knöchelhoch.Im Thronsaal angekommen sah sie die Rote Königin. Sie lag im Sterben, konnte aber Alice noch erkennen.
Sie donnerte: "Alice. Dass Du es wagst, hierher zu kommen."
Alice sah sie verwundert an.
"Das ist mein Wunderland. Ich habe es erschaffen und ich habe ein recht darauf, es zu betreten.""Du weißt nicht, was Du getan hast?!", kam die Antwort.
Da Alice nicht antwortete, fuhr die Königin fort: "Nun denk mal nach, Mädchen!
Du bist hierher geflohen. In Deine Traumwelt.
Das Wunderland verfällt. Es wurde von Dir erschaffen.
Ich liege im Sterben. Ich bin ein Teil von Dir.
Alice, Du stirbst!"
"Das geht nicht. Ich bin jung und kerngesund. Da stirbt man nicht einfach so.""Einfach so stirbt man auch nicht, Du dummes Gör!", wütete die Königin. "Das warst Du selbst, Du schwache Kreatur! Du hast uns alle umgebracht! Mit meinem Tod tritt Dein ebenso auch Dein ein", sie wurde allmählich leiser und schwächer.
Langsam sank die Rote Königin immer weiter in ihren Thron, bis sich ihre Brust nicht mehr hob oder sank und vor Alice's Augen alles schwarz wurde.
DU LIEST GERADE
Blutrausch
HorrorTod und Verderben, Mord und Totschlag. Eine Sammlung von Kurzgeschichten.