Das Böse schläft nicht

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„Was haben Sie über Vampire?"

Die Bibliothekarin sah nicht einmal auf. „Sie finden unsere Unterhaltungsliteratur auf der rechten Seite, drei Regale weiter", antwortete sie mit monotoner Stimme.

Agnes fuhr sich ungeduldig durch die kurzen Haare.

„Ich meine aber nicht Unterhaltungsliteratur", gab sie zurück, bemüht darum, nicht die Ruhe zu verlieren. „Ich meinte tatsächliche Dokumente, Sachbücher, Artikel, Reportagen und so weiter. Je älter, desto besser."

Die Bibliothekarin schob ihre Brille nach unten und musterte sie skeptisch über den breiten Rand. Agnes überlegte sich, ob sie deshalb den Job bekommen hatte, weil ihre ganze Erscheinung so eindeutig ‚Bibliothekarin' schrie, dass es nahezu ein krimineller Akt gewesen wäre, sie nicht als eine zu beschäftigen.

„Wozu brauchen Sie derartige Literatur?"

Agnes packte unwillkürlich ihre Umhängetasche fester, als hätte die Frau ihr mit einer Durchsuchung gedroht. Dabei kannte sie die Lüge schon in und auswendig.

„Ich studiere Mythologie", spulte sie ab, so glaubwürdig sie konnte. „Und ich möchte meine Masterarbeit über den Vampirmythos schreiben. Wann er auftaucht, wie er auftaucht, in welchen Kulturen, sowas."

„Gut für Sie", sagte die Bibliothekarin, während sie mechanisch auf ihrer Tastatur tippte und Agnes war sich sicher, dass sie hinter dem Wall aus Monotonie einen Hauch von Spott erkennen konnte. Nicht, dass sie nicht daran gewöhnt war. Sobald Vampire im Spiel waren, gab es eigentlich nur zwei mögliche Reaktionen: entweder ihr Gegenüber war übermäßig enthusiastisch und drohte, sie von ihrer überaus realen und wichtigen Arbeit abzuhalten, oder er konnte absolut nichts mit dem Hype anfangen und belächelte jeden, der das Wort ‚Vampir' auch nur aussprach. Sie hatte es deutlich öfter mit der letzteren Sorte zu tun. Was vielleicht nicht verkehrt war, denn die erste ging ihr ungefähr dreimal so viel auf die Nerven.

„Gehen Sie zur Sektion J, nehmen Sie die Abzweigung nach rechts, sechs Regale weit, dann auf Ihrer linken Seite das vierte Regal. Viel Erfolg."

Die Bibliothekarin schaffte es, noch lustloser als zuvor zu klingen, den Blick starr auf ihren Monitor gerichtet.

„Dankeschön", flötete Agnes mit dem zuckersüßesten Lächeln, das sie aufbringen konnte. Sobald sie sich umgedreht hatte und auf dem Weg zur Sektion J befand, verschwand es so schnell von ihrem Gesicht, wie es gekommen war.

Sie musste sich sehr beherrschen, um auf der Suche nach dem richtigen Regal nicht leise vor sich hin zu fluchen. Die Büchereien in der Umgebung ihrer Heimatstadt hatte sie längst abgeklappert auf der meist fruchtlosen Suche nach neuen Informationen, weshalb sie diesen Zwischenstopp auf der Reise zurück von ihrem letzten Auftrag eingelegt hatte. Angeblich fand sich hier eine gut sortierte Sammlung von Übersetzungen osteuropäischer Texte aus dem Mittelalter, aber ihre Information stammte von einer grellen Internetseite mit schauderhafter Grafik, die seit sieben Jahren nicht mehr aktualisiert worden war. Schon die Anfahrt war ein halber Albtraum gewesen, weil sämtliche Bestände in der Zwischenzeit in ein neues Gebäude umgezogen waren, am anderen Ende der Kleinstadt.

Wäre Agnes nicht so pflichtbewusst – sie hätte die ganze Recherche-Sache schon lange aufgegeben. Aber solange zumindest die Möglichkeit bestand, dass sich irgendwo in den Archiven Europas eine wirkungsvolle neue Strategie gegen die verdammten Blutsauger befand, konnte sie nicht ihre freien Tage däumchendrehend in ihrem Arbeitszimmer verbringen. Oder noch schlimmer – allein der Gedanke ließ sie erschaudern – schreibend. Auch wenn ihr das immerhin Geld einbrachte.

Sie erreichte das Regal, das ihr die Bibliothekarin beschrieben hatte und fluchte so laut, dass sich drei Köpfe in der Nähe zu ihr umdrehten. Denn sie befand sich mitten in der Jugendbuchabteilung und das Regal vor ihrer Nase war voll mit Vampirromanen, einer kitschiger benannt als der nächste.

„Die kann was erleben!", knurrte sie und machte auf den Absätzen wieder kehrt. Genau da klingelte ihr Handy; hoch, schrill und lauter noch als ihr Fluch vorher. Jemand zwei Regale weiter hustete ungehalten und die umgedrehten Köpfe bedachten sie eindeutig mit Feindseligkeit, also zog sie es schnell aus ihrer Umhängetasche. Obwohl sie eigentlich vorhatte, den Anruf schnell wegzuklicken, stimmte der Anblick des Namens sie um.

Hastig, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, eilte sie in Richtung des Ausgangs und presste das Handy dicht an ihr Ohr.

„Warte, Joos, eine halbe Minute nur ...", flüsterte sie schnell und fand sich kurz im Blickkontakt mit der Bibliothekarin wieder, die sie nun unverhohlen wütend anfunkelte. Agnes funkelte so gut es ging zurück, verdient hatte sie es allemal. Ganz kurz spielte sie mit dem Gedanken, einfach laut vor ihrer Nase zu telefonieren, aber sie war sozial genug, um es den anderen Besuchern nicht zuzumuten.

„So", seufzte sie, als sie die Treppenstufen draußen erreicht hatte. „Was gibt es?"

„Neuer Auftrag", sagte die Männerstimme am anderen Ende der Leitung knapp. „Oberbayern."

„Oberbayern!", stöhnte sie. „Da bin ich doch gerade erst durchgefahren."

Joos schien wenig beeindruckt. „Die Sichtung ist gerade eben hereingekommen. Augenzeugen, persönliche Aufforderung, nicht nur anonyme Internetdiskussionen wie das letzte Mal. Du solltest dich freuen."

Agnes verdrehte die Augen. „Ich sollte zurück in meine Wohnung und dringend Wäsche waschen, ich war seit Wochen nicht mehr dort."

„Das Böse schläft nicht", bemerkte Joos spitz. „Wenn du nicht willst, schicke ich Jacoba. Sie brennt nahezu darauf, endlich ihren ersten Feldeinsatz zu erleben."

„Doch nicht allein!", rief Agnes entsetzt, „Sie ist eine unbezahlte Praktikantin, Joos, das kannst du nie im Leben ..."

„Ich schicke dir die genaueren Informationen per Mail", unterbrach er sie und sie konnte sein triumphierendes Grinsen förmlich vor sich sehen. Zu schade, dass er nicht wirklich vor ihr stand und sie es ihm mit einem gut platzierten Faustschlag austreiben konnte. Nicht, dass sie das wirklich getan hätte, aber der Gedanke war befriedigend.

„Na gut", lenkte sie grummelnd ein. „Dann mach ich das eben. Aber wenn ich dann nicht meine wohlverdiente Pause bekomme ..."

„Wunderbar!", rief er beschwingt. „Oh, und eine Sache noch ..."

„Was?", knurrte sie lauernd.

„Ich muss leider eure Handy-Verträge kündigen – ab jetzt wird nur noch telefoniert, wenn es nötig ist."

„Was zum ...", begann sie aufgebracht. „Müssen wir das auch noch selber zahlen?"

Er hatte den Anstand, zumindest etwas beschämt zu klingen. „Die Wirtschaft, meine Liebe. Das Böse zahlt leider nicht dafür, dass wir es bezwingen."

„Und du lässt die Guten nicht", schnaubte sie. „Obwohl ..."

„Gleich ist die Minute voll, tut mir Leid", sagte er schnell. „Viel Erfolg!"

Es tutete in der Leitung, noch bevor Agnes es wirklich kapiert hatte, und das sagte etwas, da sie eine ungewöhnlich schnelle Auffassungsgabe hatte. Sie fluchte noch einmal laut.

Sie hatte sich schon so sehr auf ihre Wohnung gefreut, auf die funktionierende Dusche und die vertrauten Flecken an der Decke und das Quietschen ihrer Schlafcouch ... aber nein, sie musste gleich weiter, ob sie wollte oder nicht. Denn leider hatte Joos Recht – das Böse schlief nie. Und sie hatte es dummerweise zum Beruf gemacht, es zu vernichten.


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