Schloss Alkony

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Die Nacht war lang und Marieka war so erschöpft wie sonst nur nach einem langen Erntetag, aber sie konnte unter dem Wimmern und Wispern und leisen Gebeten um sie herum dennoch kaum ein Auge zu tun. Trotzdem musste sie wenigstens kurz eingenickt sein, denn als sie die Augen aufschlug, kitzelten sie junge Sonnenstrahlen auf der feuchten, kalten Haut.

Es war noch früh, das spürte sie, wie zu den Zeiten als sie noch zwei Kühe besessen hatten und sie zum Melken so zeitig wie möglich aufstehen musste. Damals war sie immer gerne noch ein paar Momente in ihren Decken liegen geblieben, hatte tief durchgeatmet und sich gesagt, dass die Arbeit irgendwann weniger wurde. Jetzt wäre sie am liebsten wieder eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht, bis ihr Vater zurück war und ihr sanft versicherte, dass alles gut werden würde.

Aber selbst wenn sie gewollt hätte, war Schlaf nicht mehr möglich, denn unter der hölzernen Falltür erklangen Schritte.

„Jemand kommt!", rief eine Frau aufgeregt und kroch so schnell hin, dass ihr fast das umgeschlungene Tuch von den mageren Schultern rutschte.

„Ich glaube nicht, dass das etwas Gutes bedeutet", murmelte ein Mann düster und blieb wo er war, dicht an die Turmzinnen gepresst und die Arme schützend um seinen Körper geschlungen, der ähnlich abgemagert war. Ionel, erinnerte Marieka sich. Sie kannte ihn aus dem Dorf, der Hof von ihm und seiner Frau war noch kleiner als der ihres Vaters. Kinder hatten sie keine.

Sie ließ ihren Blick unauffällig über die Anderen wandern. Es waren vielleicht zwanzig, die sich mit ihr auf dem Dach des Turms drängten, fast alle durchnässt und zitternd und mit aufgerissenen Augen. Etwa die Hälfte hatte sie noch nie gesehen, doch den Rest kannte sie flüchtig aus dem Dorf, selbst wenn sie mit niemandem zu reden pflegte – Bauern oder Bauernkinder wie sie, der Vater des Schuhmachers, die Frau des Bürstenbinders und ihre Schwester. Die beiden hielten sich eng umklammert, die Jüngere schluchzte erstickt in den groben Leinenumhang der Älteren. Marieka wünschte sich für einen Moment, sie hätte auch jemanden hier, der sie trösten konnte, doch dann fiel ihr ein, dass sie keinem geliebten Menschen je in diese Hölle mit hineinreißen wollte. Nicht, dass sie viele davon hätte.

Marieka biss sich auf die Lippen, bis es wehtat und versuchte das Klappern ihrer Zähne zu unterdrücken. Die Schritte klangen nah und sie war sich nicht sicher, ob sie wissen wollte, wer sich dahinter verbarg.

Als die Falltür schwungvoll aufgestoßen wurde und gegen den Stein krachte, presste sie instinktiv die Augen zusammen.

„Sch", sagte jemand, „Keine Angst. Ihr seid absolut sicher, wenn es hell ist."

Der Klang der Stimme war ruhiger als alles, was Marieka in der letzten Nacht gehört hatte und es war auf keinen Fall die Stimme eines Vampirs. Sie öffnete die Augen vorsichtig wieder.

Aus der Falltür kamen Fremde, die sich rasch nach den zusammengekauerten Gestalten am Boden bückten. Es waren Männer und Frauen gleichermaßen, ihre Kleidung einfach, aber trocken und ihre Gesichter allesamt ungewöhnlich gesund. Eine einzelne Frau mittleren Alters blieb stehen und betrachtete die Runde. Sie war groß, breit und kräftig, aber ihre Züge weich und kümmernd. Obwohl keiner der Neuankömmlinge in irgendeiner Weise bedrohlich aussah, zuckten die meisten vor ihnen zurück.

„Ich weiß", sagte die Frau in der Mitte leise, „Wir sind alle hier oben angekommen. Mein Name ist Elisabeta, ihr könnt mir vertrauen. Uns allen."

„Was bedeutet das alles?", fragte Ionel und beäugte einen Mann misstrauisch, die ihm eine Decke anbot.

„Wo sind wir?", schoss die magere Frau mit dem Tuch sofort hinterher. „Ich habe nie von diesem Ort gehört."

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