Kapitel 1.

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Ich öffne die Augen. Sonnenlicht durchflutet mein Zimmer.

Einatmen.

Mein Blick wandert zu meiner Uhr, die einsam versucht meine kargen Wände auszufüllen.

Ausatmen.

Es ist 6.50. Ich streife meine Bettdecke ab und setzte mich auf. Meine Füße berühren den kalten Boden.

Einatmen.

Ein Schauer durchläuft meinen Körper.

Ausatmen.

Ich erhebe mich, spanne jeden Muskel an, bewusst an. Und ich atme.

Einatmen.

Ausatmen.

Einatmen.

Ausatmen.

Mein Blick wandert erneut zu meiner Uhr – 6.53. Ich atme.

Von draußen kann ich die ersten Vogelstimmen hören. Sie rufen sich zu, schreien sich an, flüstern. Was Vögel wohl sagen? Was sie wohl zwitschern? Die Geräusche der Vögel begeben sich in den Hintergrund. Ich höre Autos. Das Geräusch der sich drehenden Reifen auf dem Asphalt drängt sich in meinen Kopf. Leicht irritiert blicke ich zum Fenster. Wo bin ich? Straße, Autos, Stadt. Stadt. Da beginnen sich Bilder vor mein Auge zu setzen. Mich zwingen, mich zu erinnern. Ich schreie sie an. Sie bleiben. Starren mich an. Ich atme tief.

Einatmen.

Ausatmen.

Marie. Es. Ist. Alles. Okay. Du. Bist. In. Sicherheit. Du. Bist. In. Berlin. Er. Ist. Nicht. Hier. Du. Bist. In. Sicherheit. Atme, Marie! Atme.

Einatmen.

Ausatmen.

Einatmen.

Ausatmen.

Wie ein Mantra wiederhole ich diese Wörter, bis die Bilder gehen.

Atmen.

Was für ein genialer Morgen. Ein wundervoller Neubeginn, das kann ja nur ein herrlicher Tag werden. Meine Gedanken triefen vor Sarkasmus. Und mit ihnen streife ich mir meinen oversize Pullover über und verfrachte meine, scheinbar, ebenfalls noch nicht aufgewachten Haare, in einen Dutt. Mögen sie bleiben wo sie sind. So schlurfe ich aus meinem Zimmer, stolpere die Treppe runter und finde letztendlich meinen Ort der Hoffnung, die Küche, mit einer verheißungsvollen Kaffeemaschine. Mh, Kaffe. Tatsächlich scheint doch etwas in meinem Leben Beständigkeit zu haben. Ich durchwühle die Schränke, bis ich endlich etwas Tassenähnliches gefunden habe. Ich drücke auf den Startknopf und die Maschine beginnt gurrend meinen Vanille-Chai-Latte in die Tasse tropfen zu lassen. Ich starre den Gegenstand, den ich als Tasse identifiziert habe, an. Eins muss ich meiner Tante lassen, kreativ ist sie. In ihrem kleinem Haus am Grunewald stapeln sich diverse Skulpturen, Gemälde und Holzschnitzereien. An ihr ist definitiv eine Künstlerin verloren gegangen. Und zu diesen Kunstwerken gehört, allen Anschein nach, auch meine Tasse, in der mittlerweile mein Latte auf mich wartet. Ich stelle sie auf eine der zerfurchten Arbeitsplatten. Zucker, irgendwo in diesem Haus musste es doch Zucker geben, oder etwa nicht? „Bitte, bitte bitte bitte lass es Zucker geben" murmelnd durchforste ich die Schränke erneut und finde, nichts. Wobei  nichts das falsche Wort ist. Ich finde alles mögliche, und vieles was ich in einer Küche nicht zu finden erwartet habe. Aber keinen Zucker. Da werde ich wohl mit Honig vorlieb nehmen müssen, denke ich mir und greife nach einem verklebten Glas. Drei Löffel später ist das Glas nicht mehr randvoll und mein Latte köstlich süß. Ich nehme die Tasse und finde den Weg auf unsere Terrasse.

Immer noch barfuß fröstele ich in der Morgensonne, den obwohl es Sommer ist, kriecht mir der Morgen kalt unter den Pullover. Ich umklammere meine Tasse und nehme einen großen Schluck. Lecker. Die Autos, die aus meinem Zimmer noch deutlich hörbar waren, sind von hier aus nur noch leise und erinnern fast an Meeresrauschen. Viel besser nehme ich nun die Geräusche des Waldes wahr. Die Bäume wiegen sich im  Wind und lasse die Blätter rauschen. Die Vögel zwitschern und durch das Grün kann ich den See schimmern sehen. Bei seinem Anblick entspanne ich mich fast augenblicklich. Von Zuhause, bin ich die Natur gewöhnt. Wie oft war ich als Kind in den Teich, nahe unseres Hauses, gesprungen. Und auch jetzt noch gab es nichts was mich mehr entspannte und in die kindliche Leichtigkeit zurückversetzte.

Da in meiner Tasse langsam der Grund sichtbar wird, und der Wald mich beinahe zu rufen scheint, beschließe ich den Tag mit etwas joggen und anschließendem  Schwimmen einläuten zu  lassen.  

Ich gehe zurück in die Küche und stelle die Tasse ab. Von da aus, geht mein Weg wieder die Treppe hoch zurück in mein Zimmer. Ich bin noch nicht dazu gekommen, meine Sachen in die Kommode zu räumen, die, ich und meine Tante, auf einem Flohmarkt entdeckt hatten. So durchwühle ich meine Koffer bis ich finde was ich suche, meinen schwarzen Bikini und meine Laufsachen. Beides streife ich über und binde meine Harre zu einem Zopf. Ich jogge zurück nach unten. Auf der Terrasse angekommen streife ich mir meine Schuhe über. Die Tür lehne ich nur an. So muss ich keinen Schlüssel mitnehmen, und einbrechen wird in unser Hexenhaus, wie ich mein neues Zuhause liebevoll getauft hatte, wohl sowieso niemand, hoffe ich.

Mit Vorfreude begebe ich mich auf meine erste Laufrunde in meinem neuen Leben. Ich durchquere den Wald bis ich auf einen Weg treffe, der direkt um die Krumme Lanke führt, den See, den ich vom Hexenhaus sehen konnte. Die Berliner haben schon einen Hang zur humorvollen Namensgebung, denke ich . Langsam finde ich mich in meinen Rhythmus ein und umkreise zweimal den See. Zu meinem Glück sind die Wege noch fast gänzlich leer. Bis auf einigen Hunden mit ihren Menschen und Joggern ist der Wald menschenleer. Ich war noch nie jemand, der Menschen besonders gemocht hat. Sicherlich ich hatte immer Freunde , aber zu viele auf einmal versuche ich, weitgehend zu vermeiden. Zu große Menschenmaßen geben mir das Gefühl die Kontrolle zu verlieren. Ich schüttele die Gedanken ab und konzentriere mich auf meine Schritte. Recht,links, rechts, links,rechts, links.

Auseratem halte ich an einer kleinen Einbuchtung der Uferböschung, an der ich bequem von Weg aus ins Wasser komme und streife meine Sportklamotten ab. Ich trete mit den Füßen vorsichtig in den See und lasse meinem Körper Zeit, sich an die Temperatur zu gewöhnen. Langsam wate ich weiter, bis mir das Wasser bis zur Hüfte reicht. Mit dem Einatmen lass ich mich ins Wasser gleiten und tauche einige Meter, bis mein Kopf wieder die Oberfläche durchstößt und ich zu schwimmen beginne. Das Sonnenlicht reflektiert sich auf den kleinen Wellen, die ich durch meine Schwimmzüge erzeuge. Ich kann am anderem Ufer einen Fischreiher beobachten, der sich sonnt. Fasziniert halte ich einige Minuten an und beobachte das Tier. Als es wegfliegt schwimme ich eine Weile weiter, bis meine Arme müde werden und ich zurück bei meinen Klamotten bin.

Glücklicherweise sind diese noch da. Nur fällt mir auf, ich habe kein Handtuch dabei. Mir scheint nichts anderes übrig zu bleiben als, nass wie ich bin, mich zurück in die verschwitzen Laufsachen zu zwängen. Gänzlich unelegant, hüpfe ich herum, als ich versuche mich in meine Leggins zu quetschen. Mich über mich selbst amüsierend hoffe ich, dass ich mich keiner beobachtet. Ich gebe sicherlich einen sehr lustiges Bild ab. Nachdem ich diese Hürde gemeistert habe, mache ich mich zurück auf meinen Weg nach Hause.

This girl. Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt