Another Wonderland

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Ich hatte immer geglaubt ich wäre Alice aus Alice im Wunderland.

Jeden Abend bat ich meine Mutter mir vor dem Schlafengehen ein Kapitel aus dem Roman von Lewis Carroll vorzulesen.

An meinem zwölften Geburtstag schenkte mein Vater mir einen weißen Hasen mit einer roten Weste. Ich erinnere mich, dass ich so aufgeregt war endlich meinen eigenen weißen Hasen zu haben, dass ich ihm sogar einige Textstellen vorgelesen hatte.

Es war der beste Tag meines Lebens.

Es war aber auch der Tag, an dem mein Leben anfing auseinanderzufallen:

„Wann können wir denn endlich den Kuchen essen?", maulte ich.

Seit heute Vormittag thronte eine wunderschöne Alice-in-Wunderland-Torte auf unserem Esszimmertisch. Meine Mutter lachte und strich mir über meine blonden Haare, während meine Schwester Alexia mit ihrem Zeigefinger vor meiner Nase herumfuchtelte und meinte: „Man Alice, du weißt doch dass wir immer warten, bis die Sonne untergegangen ist, bevor wir die Kerzen ausblasen, damit es spannender ist." Ich streckte ihr meine Zunge raus und drückte mir meinen Hasen an die Brust und sie kicherte.

„Und wie lange dauert das noch?"

„Schau doch mal aus dem Fenster, Süße, es dämmert schon.", sagte meine Mutter, während sie sich aus ihrem Sessel erhob, eine Hand auf ihren Brustkorb gedrückt, und nach dem schwarzen Haarreif mit der schwarzen Schleife griff, den sie mir anschließen auf den Kopf schob.

Mein Vater runzelte die Stirn: „Wie oft muss ich dir denn noch sagen, dass du endlich zum Arzt gehen sollst, Clarice? Du hast diesen lästigen Husten schon seit Monaten und er ist bis heute nicht weggegangen, so wie du es jedes mal behauptest. So geht das nicht mehr weiter!"

„Mir geht es prima.", beharrte meine Mutter.

Mein Vater seufzte ergeben, lehnte sich zurück und wandte sich wieder seiner Zeitschrift zu. Alexia und ich sahen uns an und kicherten. Unsere Mutter war eben die starrsinnigste Person, die es jemals gab.

Ich sah mal wieder aus dem Fenster und sprang sofort auf. „Es ist dunkel, Mama, Papa, ich kann die Sterne sehen! Los, los zündet die Kerzen an!"

Schnell schnappte ich mir meinen Hasen, sprintete auf den Tisch zu und setzte mich auf meinen Platz, während mein Vater nach der Videokamera griff und meine Mutter die Kerzen anzündete. Meine Schwester schaltete derweil das Licht aus, sodass das Zimmer nur noch vom Kerzenschein und der kleinen grünen Lampe der Videokamera beleuchtet wurde, was bedeutete, dass die Aufnahme lief.

Ich sah mit glänzenden Augen auf meinen weißen Stoffhasen, bevor ich meinen Blick auf die Alice, die an der Spitze der Torte thronte, richtete. Ich zählte innerlich von drei runter, holte tief Luft und blies die zwölf Kerzen aus, während ich mir aus vollem Herzen wünschte, dass mein weißer Hase mit der roten Weste zum Leben erwachen würde und mich in diesem Wunderland, in dem ich lebte, herumführen würde.

Es wurde stockdunkel im Haus und ein dumpfes Geräusch ertönte. Wahrscheinlich ist meine Mutter wieder einmal gegen den Türrahmen auf dem Weg zum Lichtschalter gelaufen. Meiner Schwester klatschte und endlich ging das Licht an.

Ich sah grinsend zu Alexia, die neben dem Lichtschalter stand und wandte mich an meinen Vater, welcher die Videokamera zuklappte. Doch wo war Mama?

Ich öffnete gerade meinen Mund um meinen Vater zu fragen, als meine Schwester plötzlich einen Schrei ausstieß. „Oh mein Gott, was ist mit ihr?", kreischte sie hysterisch.

Noch im Krankenwagen starb sie aufgrund des Herzinfaktes. Ich erinnerte mich, dass mein Vater Alexia und mich bei den Nachbarn, ein sehr nettes, altes Ehepaar, zurücklies, sodass er allein ins Krankenhaus zu ihr fahren konnte, um die nötigen Vereinbarungen zu treffen.

Nach ihrem Tod kam mein Vater kaum mehr nach Hause unter dem Vorwand arbeiten zu müssen. Zu Hause erinnerte ihn alles an meine Mutter.

Die Arbeit lenkte ihn ab.

Sein Büro war ziemlich weit von unserem Haus entfernt, sodass er sich ein Apartment ganz in der Nähe gesucht hatte, welches er aber so gut wie nie benutzte, da er die ganze Zeit auf Geschäftsreise war.

Ich wurde praktisch von meiner großen Schwester allein großgezogen.

Ich wuchs schnell heran und ich realisierte, dass ich nicht die Alice aus der Geschichte war und meine Welt nicht Wunderland, egal wie sehr ich mir das manchmal auch wünschte.

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⏰ Letzte Aktualisierung: Jun 24, 2016 ⏰

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