Kapitel 5 - ??

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"Nicole, komm her mein Schatz." Die Stimme ihrer Mutter drang sanft in ihr Ohr, sie war gerade erst aufgestanden und stapfte etwas unbeholfen, mit vom Schlaf verklebten Augen, in Richtung Esszimmer. Ihr kleines Stofftier, eine weiße, flauschige Katze, die sie Minka getauft hatte, trug sie auf dem Arm. Sie bemerkte die Traurigkeit in der Stimme ihrer Mutter nicht, die ihre blond gefärbten, eigentlich schwarzen, Haare zu einem lockeren Zopf gebunden hatte. Ihr Vater saß ebenfalls am Tisch und blickte betreten auf die hellbraune Tischplatte, die er erst vor kurzem selbst zugeschnitten und geschliffen hatte. Seine schwarzen Haare waren kurz geschnitten, was ihn etwa 10 Jahre älter wirken ließ, sein Stoppelbart verstärkte den Effekt nochmal um drei bis vier Jahre. Ohne ein Wort setzte Nicole sich neben ihre Mutter auf eines der weinroten Sitzkissen, welche auf den hellen, hölzernen Stühlen lagen. "Du weißt doch noch, dass es deiner Oma nicht so gut ging..." Ihre Mutter unterbrach ihre Worte für einen kurzen Augenblick und auf dem Tisch entstand ein dunkler Fleck, dann noch einer. "Ja klar, Mama. Deswegen haben die Ärzte sie doch von zu Hause abgeholt." Ihre Mutter griff mit einer Hand nach ihrer, Nicoles Vater blieb weiterhin stumm und starrte auf die Maserung des Holzes vor ihm. "Die Ärzte konnten ihr nicht mehr helfen, ihre ganzen Organe waren ganz kaputt.." Ein weiterer, leiser Schluchzer durchdrang die Stille und ließ Nicole erstarren. "Heißt das, Oma kommt nicht mehr wieder?!" "Ja, mein Schatz. Oma ist jetzt bei den Engeln im Himmel und passt auf dich auf." "Aber Papa hat gesagt es ist nicht so schlimm!" Tränen rollten über ihre Wangen, verschleierten ihre Sicht auf ihre Eltern und auf die Welt, die ihr noch bis vor kurzem so wunderschön und faszinierend erschienen war. Doch jetzt spürte sie nur noch Kälte, die sie zum Fallen brachte, in ein Loch, das keinen Boden zu haben schien. Selbst die Umarmung ihrer Mutter konnte diese Kälte nicht ganz verdrängen, den Schmerz auslöschen oder ihren Fall aufhalten, sie machte alles nur ein wenig erträglicher.

Die Erinnerung an ihre Großmutter, die Mutter ihres Vaters, die sie über alles geliebt hatte, überfiel Nicole wie aus dem Nichts, ohne dass sie wusste warum. Ihr Vater hatte sie damals angelogen, ihr gesagt ihre Großmutter würde wieder gesund werden, alles sei halb so schlimm. Erst Jahre Später hatte sie begriffen, dass er sich das nur eingeredet hatte, unfähig den wahrscheinlichen Verlust seiner Mutter zu akzeptieren. Sie war gerade erst elf Jahre alt gewesen und schon gezwungen worden den zweiten großen Verlust zu verkraften. "Alles wird wieder gut." Die Worte ihres Vaters klangen noch in ihren Ohren nach. Das war die erste Lüge ihrer Eltern, die sie als solche erkannt hatte und es sollte bei weitem nicht die letzte gewesen sein. Sie öffnete ihre Lippen für einen lautlosen Seufzer, während sie die ländliche Gegend der Landstraße, welche in Richtung der Stadt Leer führte, betrachtete, die mit immer größerer Geschwindigkeit an ihr vorbeizog. So oft war sie diese Strecke schon gefahren, schon in ihrer Jugend. Und jetzt fuhr sie wieder hier entlang, mit so vielen neuen Erfahrungen und Eindrücken, neuen Lasten, die sie zu erdrücken schienen. Nicole schloss ihre Augen in der Hoffnung, die schweren Gewichte, die sie zu erdrücken schienen, für einen Moment vergessen zu können, und dachte an den einen Tag, der ihr Leben komplett verändert hatte.

"Ist hier noch frei?" Ohne auf eine Antwort zu warten, setzte sich Nicole links neben dem gut aussehenden jungen Mann auf einen Barhocker, denn sie wusste bereits, dass es so war. Seit er etwa vor dreißig Minuten die kleine Bar betreten hatte, hatte er sich mindestens vier Bier bestellt, trotz seines, etwas ungepflegten, Erscheinungsbildes war er attraktiv, normale Statur, kurze, schwarze Haare und faszinierende Augen, die sie an das Meer erinnerten. "Mhhm." Das war die einzige Antwort, die er ihr gab. Sein dunkelgraues T-Shirt war vom Regen draußen ganz durchweicht, eine Jacke hatte er nicht dabei, was um diese Jahreszeit wirklich seltsam war. Mitten im Herbst ging niemand ohne Jacke nach draußen, es regnete fast pausenlos und der starke Wind ließ einen schnell auskühlen. "Na, was kann ich für dich tun, Nikki?" Der Barkeeper, ein alter Bekannter von ihr, den man durchaus als Freund hätte bezeichnen können, kam auf sie zu. Sie hatten sich ein wenig angefreundet, kaum verwunderlich bei ihren ständigen Besuchen hier. "Hey Eric, das selbe wie immer." Während Eric ihre Cola in ein hohes, schmales Glas goss, widmete Nicole sich wieder dem Mann neben ihr, er war etwa in ihrem Alter, um die 19, aber er wirkte nicht wie der klassische 19-jährige, den man so traf. Sein Blick war traurig auf den Aschenbecher vor ihm gerichtet und seine Hände stützten seinen Kopf, das und die Tatsache, dass er sich vorhin ein Bier nach dem anderen bestellt hatte, ließen ihr keinen Zweifel daran, dass er irgendwelche emotionalen Probleme hatte. Vermutlich etwas aus seiner Vergangenheit oder ein aktuellerer Vorfall in seiner Familie. "Hier, deine Cola." "Danke, Eric." Der Barkeeper fuhr sich mit einer Hand durch seine blonden Haare und lächelte sie an, wobei seine fast schon rotbraunen Augen sie interessiert musterten. Er war nicht unbedingt ihr Typ, weder vom Aussehen noch vom Charakter, aber seine Augen fesselten sie irgendwie. Sie wirkten so mysteriös, strahlten eine angenehme Art der Wärme aus, aber vermutlich lag das einfach nur an der Tatsache, dass Braun eine sehr warme Farbe war. "Was gibt's Neues bei dir? Viel zu tun mit deinen Prüfungen?" "Ja, ne ganze Menge. Aber es hält sich in Grenzen, nächstes Jahr wird's schlimmer." Für sich selbst dachte Nicole nur, dass es genauso laufen würde wie die Jahre zuvor, sie würde ein oder zwei Tage vor der Prüfung anfangen zu lernen und sie mit einer Zwei bis Drei bestehen. "Ach ja, die Abi Prüfungen. Ich hab das ganze zum Glück schon hinter mir, welchen Leistungskurs hast du nochmal gewählt? Ich glaube es war Geschichte oder?" Innerlich seufzte sie genervt auf, sie wollte sich nicht mit Eric unterhalten, sondern mit dem Unbekannten neben ihr, er schien interessant zu sein. "Deutsch." "Ach ja, du hast ja dieses tolle Hobby Geschichten zu schreiben!" So wie er das sagte, klang es eher abschätzig, als wäre sie ein kleines Kind, dem man vorgaukelte beeindruckt von seinen Kritzeleien zu sein. Zum Glück musste sie darauf nichts erwidern, denn ein Gast etwa zehn Meter entfernt verlangte nach einem Gin Tonic. Erleichtert aus diesem Gespräch entlassen zu sein, drehte sie sich nach rechts zu dem Unbekannten um und sprach ihn einfach an, auch wenn es sie etwas Überwindung kostete. "Hey, mein Name ist Nicole und wie heißt du?" "Was geht dich das an?!" Die Stimme des Unbekannten klang nicht wirklich genervt oder gereizt, eher frustriert, was zu ihrer Theorie über seine emotionalen Probleme passte. "Gut, wenn du lieber weiter auf den Aschenbecher starren willst, lass ich dich in Ruhe." Er richtete sich ein wenig auf und sah sie an, er schien eine Weile zu überlegen. "Leon." Sie lächelte ein wenig, diese Methode funktionierte immer. Nicole nahm einen kleinen Schluck von ihrer Cola und spürte, wie die kalte Flüssigkeit ihr einen Schauer über den Rücken jagte. "Und was machst du hier?" "Bier trinken, was sonst?" Jetzt lächelte auch er sie ein wenig an, sie liebte dieses Gefühl, wenn ein Mensch wegen ihr bessere Laune hatte.

"Nicole?" Leon rüttelte leicht an ihrem Arm und holte sie in die Gegenwart zurück. "Wir sind da."

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Hier ein kleiner Einblick in Nicoles Vergangenheit, ich hoffe es hat euch gefallen :) Danke an alle Leser, Voter und Follower, vor allem an meine liebe Schatana, die mich so fleißig unterstützt

Eure Naira :)

JournalistWo Geschichten leben. Entdecke jetzt