Ich schließe langsam die Tür hinter mir und laufe die Treppen der Einfahrt hinunter. Der kalte Wind weht durch meine mittellangen, goldblonden Haare. Die ganze Nacht hatte ich wieder von meiner Heimat geträumt. Kein Wunder, jeden Tag werde ich an sie erinnert. In Gedanken versunken laufe ich die Straße hinunter, bis ich an der kargen Haltestelle angekommen bin. Wie jeden morgen warte ich auf den nächstbesten Bus. Wenn ich Glück hatte kam als erstes die X15, die mich direkt nach Manhattan bringen würde. Anderenfalls würde mich die S74 oder die S76 zum Busbahnhof und somit auch zur South Ferry bringen. Eigentlich genoss dich die kostenfreie Überfahrt mit dem Blick auf die Freiheitsstaue und der Skyline von Manhattan. Ich setzte mich gerne nach draußen, nur um den frischen Wind auf meiner Haut zu spüren und die Sonne aufgehen zu sehen. Diesen morgen jedoch kam tatsächlich die X15 als erstes und ich war dankbar dafür. So sehr ich auch den Trip mit der Fähre genoss, ist es wesentlich einfacher mit dem Bus in die Stadt zu fahren. Ich suchte mir einen Fensterplatz auf der linken Seite, damit ich mir die atemberaubende Skyline New Yorks betrachten konnte. Ich war jetzt schon ganze 2 Monate in den Staaten und bekam trotzdem nicht genug von diesem Anblick. Aber ich kannte auch den Grund dafür. Diese Skyline, die mich so sehr an meine Heimat erinnerte. Natürlich bin ich mir bewusst, dass diese beiden Städte nicht im geringsten vergleichbar sind, vor allem da die Skyline New Yorks einfach so beeindruckend ist, besonders bei Nacht. Diese Städte sind so gleich, aber doch so unterschiedlich. Gedankenversunken scrolle ich durch meine Wiedergabelisten und finde auch sehr schnell die passenden Lieder. Ich entscheide mich für "Im Herzen von Europa". Dieses Lied verursachte einfach jedes Mal Gänsehaut. Ich dachte an die vielen wundervollen Erinnerungen, die ich mit diesem Lied verband. Das Stadion, die Mannschaft, die Fans, die alle ihre Schals in die Höhe strecken und aus voller Kehle dieses Lied mit Stolz geschwellter Brust singen. Ja, es war jedes Mal etwas besonderes, wenn ich dieses Stadion besuchte. Und bei diesem Gedanken musste ich leicht schmunzeln. Mein erster Stadionbesuch - unvergesslich. Ich hatte erst bei meiner Firma angefangen und da diese ein Sponsor der Mannschaft war, auch direkt eine Karte erhalten, als ich erzählte das ich mich sehr dafür interessiere. Gemeinsam mit einer Arbeitskollegin schaute ich mir das Spiel an, es war eisig kalt und überall lag Schnee. Nicht unbedingt unüblich im Dezember. Doch meine Arbeitskollegin war anscheinend nicht so sehr an dem Fußballspiel interessiert, wie ich es war und verlies daher auch in der Halbzeit das Stadion. Vielleicht lag es aber auch einfach daran, dass es gefühlte -15 Grad hatte. Die Stimmung nach dem Spiel war ausgelassen, da die Eintracht den BVB mit 1:0 geschlagen hatte. Ich machte mich auf den Rückweg zum Parkplatz, wo mein bester Freund mit einem Kumpel und dessen Freundin auf mich warteten. Gedankenversunken stieß ich mit einem sehr großen und gefährlich wirkenden Fan zusammen. Zu meinem Pech, war er kein Gleichgesinnter und funkelte mich promt böse an. Sofort wich ich ein paar Schritte zurück, mein Herz rutschte mir in die Hose, als er immer noch grimmig dreinblickend auf mich zu kam und begann mich anzuschreien sowie mich zutiefst beleidigte. So was konnte auch nur mir passieren, bis ich plötzlich eine Hand auf meiner Schulter spürte. Ich erschrak und drehte meinen Kopf um nachzusehen, während mein Körper anfing zu zittern. Dort standen drei Männer, die nicht wenig gefährlicher aussahen, als der Mann vor mir. Mein Herz klopfte mir bis zum Hals und ich stand geschockt da. Doch die Männer lächelten mich an und stellten sich direkt vor mich, um den aufgebrachten BVB-Fan zu fragen, was denn passiert war. Dieser reagierte jedoch noch mehr gereizt auf diese Frage und fing an zu schreien. Am liebsten wäre ich so schnell wie möglich weggerannt, aber ich war nicht in der Lage mich zu bewegen. Dieses Gefühl weg zu wollen, ohne das man dich bewegen kann, davon hatte ich schon in unzähligen Büchern gelesen, aber nie konnte ich es mir vorstellen. So wie jetzt, hilflos und verängstig. Ein Zustand der bei mir wirklich äußerst selten auftritt. Einer der Männer drehte sich zu mir um, lächelte und sagte, dass ich mir keine Sorgen machen solle, denn es würde mir sicher nichts passieren. In der Zwischenzeit waren noch mehr Fans des gegnerischen Vereins dazu gestoßen, die den Mann beruhigten, der immer noch grimmig zu mir blickte. Ich hatte ja schon viel über die "Hooligans" der Eintracht gelesen und um ehrlich zu sein, war ich auch etwas eingeschüchtert, denn ihre Gestalten wirkten nicht grade ungefährlich. Groß, breite Schultern, muskulöse Arme, dunkle Kleidung. Aber umso dankbarer war ich, dass sich diese drei Männer vor mich stellten, damit die Situation nicht eskalierte. So bedrohlich sie auch wirkten, ich fühlte mich plötzlich sicher. Als sich der Mann mit dem grimmigen Blick wieder abgewendet hatte, grinsten sich die drei Männer erst einmal triumphierend an. Erleichtert blickte ich zu ihnen auf und bedankte mich mit einem riesigen Grinsen bei ihnen. Danach bahnte ich mir einen Weg zum Ausgang, bis mir auffiel, dass ich in Wirklichkeit keine Ahnung hatte, auf welchem Parkplatz meine Mitfahrgelegenheit überhaupt stand. Ich holte schnell mein Handy raus, tippte die Zahlenkombination ein und rief meinen besten Freund an, der an der anderen Leitung, sichtlich genervt, erst einmal einen tiefen Seufzer von sich gab. Darauf hin sagte er, ich solle genau dort bleiben wo ich bin und das er mich schon finden würde. Er kannte sich ziemlich gut aus, denn er und seine Kumpels waren alle Fans der Eintracht Frankfurt. Umso neidischer waren sie, dass sie dieses Spiel nicht live miterleben konnten. Ab diesem Tag, war mein Herz auch mit einem Adler geprägt. Ein kleiner Lacher entwich mir und mein Sitznachbar sah mich mit einem verwirrten Blick an. Mittlerweile waren wir im Herz von Manhattan angekommen und ich war wieder zurück in der Realität.

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Nur (m)eine Stadt [SLOW UPDATES]
ActionVerängstigt, allein, traurig - so sieht das neue Leben von Lexi in New York aus. Sie ist aus Frankfurt geflohen und will sich dort ein neues Leben aufbauen. Doch ein Stalker und der Umstand, dass sie langsam aber sicher paranoid wird, machen die Sac...