1. Kapitel • Wichtige Pflichten

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Ich betrachtete das ruhig schwimmende Wasser, das sich wie eine weitreichende Liane um meine Knöchel schlang und den Teil meiner Beine, der das Wasser berührte, unsichtbar machte und nur noch durch glitzernde Umrisse zu erkennen machte. Dieses Vorgehen hatte ich schon immer geliebt und fasziniert mitangesehen. Auch das Kribbeln war noch zu spüren, das immer bei diesem Kontakt auftrat. Diese Wirkung auf Wasser hatte ich mit sechs Jahren das erste Mal gespürt und ich hatte ganz laut kichern müssen, als mich das Gefühl erreicht hatte. Es war passiert, als ich das erste Mal die Gewässer dieses großen Sees berührte. Meine Mutter und ich waren kurz zuvor an das Haus, das am Waldrand lag, gezogen und somit hatte ich von meinem Zimmer aus freien Blick auf das wie ich es früher nannte 'riesige, glitzernde, wunderschöne Ding'.
Ich hatte hier gehockt, meine Hand ausgestreckt und das Wasser berührt und auf einmal hörte ich Stimmen.
Ab dem Tag umgaben sich mich sofort, wenn ich dem See nah war. Meine Mutter schien das zu verschrecken und dann verschwand sie einige Zeit später... Auch jetzt spukten sie in meinem Kopf, aber sie waren nicht gefährlich oder rieten mir böse Dinge.
Nein, sie gaben mir Ratschläge. Erzählten mir Geschichten und lehrten mich Sachen über meine Aufgabe. Meine Aufgabe... Etwas zu beschützen, über dessen Existenz kaum einer etwas wusste. So wie sie mir ständig erzählten war ich die nun ja wie gesagt, die Beschützerin dieser Gewässer.
Es war von meiner Geburt an meine Bestimmung gewesen, den See zu bewachen und ihn jedes Jahr zu retten vor seiner Austrocknung. Begonnen mit der Opferung, die dabei zu vollziehen war, hatte ich zwei Jahre später nach der Begegnung mit meiner Bestimmung. Es war nicht leicht, aber einer der lautesten Stimme, eine beruhigende, sanfte, melodische Stimme half mir dabei. Sie erinnerte mich an meine Mutter... Irgendwie, obwohl ich sie nicht lange gekannt hatte. Dies war meine erste Opferung und von der zur Nächsten wurde es immer etwas leichter einen Mensch in den tiefen See zu locken und bis an den Grund runterzuziehen. Da war immer noch dieses Hintergrundgefühl, aber ich versteckte es immer, denn es lenkte mich ab und die Stimmen machten mir deutlich, dass das nicht passieren durfte.
Neben den Stimmen war mein einziger Gefährte, während meiner Kindheit immer Alexander gewesen. Er war zu mir gezogen in die bescheidene Hütte, nachdem meine Mom verschwunden war. Eigentlich hatte er vorgehabt in ein edleres Haus mit mir zu ziehen, näher an der Stadt, aber er sah ein, dass ich nicht wegzubekommen war von dem See. Also ließ er wenigstens das Häuschen von innen wunderschön einrichten. Meine Mundwinkel hoben sich ein bisschen und ich schloss meine Augen. Nun schob ich die Gespräche der Stimmen etwas weg von mir, da keiner mir etwas mitzuteilen hatten und genoss die Stille.
Es war zwar schön mit den Stimmen zu reden, aber man musste aufpassen, dass man alles verstand, da es meistens so klang, als ob sie unter Wasser mit einem reden würden. Nun stützte ich meine Hände auf den Holzsteg noch mit geschlossenen Augen und bekräftigter Wahrnehmung und atmete den bezaubernden Duft der Wälder und des Sees ein. Das hier war mein Zuhause, wie jedes Zuhause brachte es Aufgaben mit sich. Und die Opferung eines weiteren Menschen stand mir bevor. Im hintersten Teil meines Verstandes lauerte die Angst, die jedes mal, einen Tag davor begann und erst Wochen danach wieder endete.
Und sie wurde immer stärker, sobald ich dem Tag näher kam. In dieser Zeit, so wie gerade, war es schwierig und kräfteraubend nicht dem Verlangen hinzugeben, jetzt schon meine Arbeit zu vollrichten, aber manchmal konnte ich kurz abschalten, besonders da es noch nicht zu stark war, um einen klaren Gedanken fassen zu können.
Normalerweise ging ich am nächsten Tag nicht zur Schule und man rätselte dort auch immer, was ich jedes Jahr am selben Tag tat, doch diesmal war das Verlangen nicht zu stark und außerdem hatte mir die melodische Stimme geraten, es zu tun. Also würde ich, wenn Alexander zurückkam, ihm davon erzählen und alles mit ihm für den neuen Fang vorbereiten.
Schritte und ein Türknallen vom Auto waren zu hören und sie durchbrachen die friedlich Stimmung. Meine Augen öffneten sich sofort und bevor ich zu meinem »Ersatzvater« eilte, warf ich noch einen letzten sehnsüchtigen Blick auf die Gewässer und die rötliche Sonne, die gerade im Wasser verschwand. Dann rannte ich freudig auf ihn zu und umarmte ihn kräftig.
»Oh, Hey.« Er lächelte mich freundlich an und ich musste daran denken, wie er sich zuvor am Anfang benommen hatte: Kühl, einsam und auch wütend, manchmal.
Im Laufe der Zeit wurde er aber immer netter. Und offener. Und ich wusste, wieso er sich so benommen hatte und sehr selten noch benahm. Er hatte meine Mutter gekannt, die ihn in einer schweren Zeit zurück gelassen hatte. Üben ich konnte nicht anders als Hass und Enttäuschung zu empfinden. Wie Alexander mir erklärt hatte, hatte diese schmerzhafte und düstere Zeit darin bestanden zu Trauern. Um seine kleine, sehr junge Schwester. Sie war mit acht Jahren gestorben und er hatte mir gesagt, ich würde ihn sehr stark an sie erinnern.
Er entzog sich sanft meiner Umarmung und fragte mit einem mitfühlenden und doch distanzierten Ausdruck im markanten Gesicht.
»Bist du bereit?« Da er für mich wie zur Familie gehörte, mochte ich es nicht ihn so zu sehen. Alexander gehörte zu einer der wenigen Wesen, die von meinen Pflichten wusste und er stand mir immer bei. Ich lächelte ihn aufmunternd und doch traurig an und sagte: »Ich schaffe das. Es ist okay.«
Er seufzte einmal und antwortete nur: »Lass uns ins Haus gehen.« Ich folgte ihm etwas besorgt. Die kleine, weißgestrichene Terrasse vor unserem Haus war nur von einem Schaukelstuhl geziert, der bei dem aufkommenden Wind hin und her schaukelte. Und fast sah ich meine Mutter vor Augen, wie sie darin saß, ihre Lesebrille aufgesetzt hatte und eine von den Büchern über Lebensweisheiten in den Händen hatte. Ein eisiger Schauer fuhr über meinen Rücken. Schnell schüttelte ich mich etwas, um die Kälte zu verscheuchen und ging eilig weiter.
Ich trat durch die schwarze Tür und ging durch den kleinen Eingangsraum mit Beistelltisch und Mini-Garderobe. Dieser Raum war mit Farben wie Gold, Silber, Schwarz oder Weiß ausgefüllt. Das ganze Haus war eigentlich hauptsächlich mit Sachen dieser Farbtöne geschmückt. Meine Beine trugen mich weiter direkt in den nächsten Gang, der mir auf jeder Seite zwei Räume zeigte und geradeaus einen weiteren.
Auf der linken Seite befanden sich im vorderen Raum die Küche und im hinteren das Wohnzimmer.
Auf der rechten waren die Zimmer von mir und Alexander und geradeaus war ein Bad.
Alexander bog nun links ab in die Küche und ich beeilte mich noch etwas mehr. Als ich auch nun die Küche erreicht hatte, setzte ich mich auf einen der drei Barhocker und strich über die Glastheke, in der sich mein Spiegelbild etwas offenbarte. Mein dunkelbraunes Haar war, wie eigentlich immer, offen und fiel über meine Schultern, während mir große, moosgrüne Augen entgegen starrten. Die Haare und das Gesicht ähnelte mehr dem meiner Mutter, doch die Augen besaß ich, wie meine Mutter mir oft erzählt hatte, von meiner Großmutter. Eine sanftmütige, gütige Frau. Von meinem Vater hatte ich auch ein wenig die Knochenstruktur geerbt, aber sonst war an mir nichts Ähnliches zu entdecken. »Joanna, wir müssen nun anfangen mit dem Vorbereiten.«

Secret Water - Hidden (Pausiert)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt