Inseln der Stille

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Der Sommer meines Lebens. Einfach vorbei. Rasch haben nun die Bäume eine gelbe, orangene Farbe angenommen. Die Äste der Magnolie vor meinem Fenster sind verdorrt. Es wird drei, vielleicht vier oder fünf Monate dauern, bis wieder kleine Knospen an ihr wachsen, sie wieder zu leben beginnt. Wie lange wird es bei mir dauern, wie lange wird es dauern, bis wieder eine Knospe an mir wächst, bis ich mich wieder lebendig fühle? Wie lang bis ich neu anfangen kann, das ganze zurücklassen kann. Ist es abhängig von der Zeit, oder doch vom Ort. Muss ich meine neue Heimat verlassen?

Johannes steht neben mir, hält meinen Kopf, schwer wie Blei. Lang lebe der Tod. Keine Platte, nur eine MP3. Durch die Wand zwischen unseren Zimmern noch blecherner als so schon. "Jo, ich kann das nicht mehr, ich will das nicht mehr, ich kann nicht ohne sie, will nicht ohne sie." "Du bist melodramatisch, Ariel. Der Alptraum hat dich geschafft. Lass ihn dich nicht weiterquälen. Du bist perfekt. Ohne sie. Sie will dich nicht, also ist sie nicht eine weitere Träne wert." Er geht in Deckung, normalerweise münden solche Aussagen in mindestens einem schweren Hieb in Richtung seines Gesichtes.

~

Drei Wochen später habe ich endlich mein Leben wieder ein bisschen im Griff. Dunkle Ringe zieren Annes und Jos Augen, als sie auffällig unauffällig nacheinander aus seiner Zimmertür kommen. "Wem macht ihr hier was vor, hm? Deine T-Shirts und Boxershorts an ihr sind beweiskräftiger für euren Sex als Tribal Tattoos für schlechten Geschmack." Jo nickt mir nur missmutig zu, Anne wird rot. Nicht vor Wut, aber vor Scham. Oh, da habe ich wohl einen wunden Punkt getroffen. Ich reiche den beiden eine Tasse Kaffee und einen Bagel, zwei sind da. Eigentlich für Jo und mich, aber ich schenke sie den beiden. "Ich muss los. Die Uni ruft. Ich hab' einiges nachzuholen." Ich höre, wie die beiden streiten, als ich aus der Tür bin. Wo ist eigentlich Till? Er ist schon seit einigen Wochen nicht mehr in der WG aufgetaucht, oder ich habe ihn einfach nur verpasst, nicht wahrgenommen.

Meine Schuhe sind sofort durchnässt, als ich draußen vor der Tür in eine Pfütze trete. Fluchend sehe ich nach oben. Weihnachtsstimmung kommt bei diesem Dauerregen kaum auf. Weihnachten. Oh. Wann ist das nochmal? Mein Handy sagt mir genaueres. 24. Dezember. Da die Uni an Feiertagen nicht unbedingt mein favorisierter Ort zum den Tag verbringen ist, und ich noch so gut wie gar keine Geschenke habe, mich nicht einmal um ein Zugticket nach Hause gekümmert habe, muss ich mich wohl oder übel heute durch die Menschenmassen quälen, die genau wie ich das Fest der Liebe und Ruhe vergessen haben, aus den Augen verloren. Für Anne finde ich direkt am Eingang eines Kaufhauses das passende Geschenk. Sie ist ein absoluter Weihnachtsmensch und hat sich schon oft über die Krippe beklagt, die in ihrer Wohnung fehlt. Also kaufe ich ihr kurzerhand eine. Sie ist aus Holz, nichts Besonderes, aber ich ahne schon, dass sie sich freuen wird.

Johannes wird sich über alles freuen, was ich ihm schenke, aber ich entscheide mich kurzerhand für eine CD und eine Flasche Wein, da ich seinen Vorrat in den letzten Wochen leergetrunken habe. Till, falls er mal auftauchen sollte, bekommt ein paar neue Drumsticks. Meine Eltern, ja, die sind immer ein kleines Problem. Einerseits will man nicht zu viel Aufwand betreiben, andererseits nicht zu wenig. Mama bekommt ein deutsches Gebetbuch, damit sie endlich auch bei uns in die Synagoge gehen kann, und Papa eine neue Kippa und einen schönen warmen Schal. Die Synagoge bekommt auch eine Spende, obwohl ich nicht gläubig bin. Dann der letzte Schritt. Das Ticket nach Hause.

In einer Schlange mit zwanzig Leuten warte ich darauf, dass sich jemand an der Reiseinformation der DB für mich interessiert und mir noch einen der letzten freien Plätze im ICE nach München reserviert. Der Zug geht in einer Stunde und vierunddreißig Minuten, als ich endlich wieder zuhause bin. Die Geschenke lege ich mit Namen versehen unter den Tannenbaum und packe meine Tasche für die Reise. Während ich noch meine warmen Winterschuhe anzuziehen versuche und der Schal schon wieder halb von meinem Hals rutscht, rufe ich Mama und Papa an.

Skyline #wattys2016Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt