Es war mehr, viel mehr als ein Umzug. Es war die Erfüllung eines Lebenstraums. Oder vielmehr sollte es das werden. Und während ich durch den warmen Sommerregen von der U-Bahn an der Friedrichstraße in Richtung Franz-Klühs-Straße ging, genoss ich schon mal die Berliner Luft, die Atmosphäre. Vor einem mehrstöckigen Haus bleib ich stehen. Hier suchte ein Vermieter nach einem Bewohner für eine vollkommen überteuerte Wohnung. Zwanzig Quadratmeter für Wohnen und Schlafen, eine kleine Kochnische und ein winziges Badezimmer. Es war eine der wenigen Wohnungen, deren Besitzer sich zurückgemeldet hatten auf meine Anfrage hin. Viele hatten mich auch einfach weggedrückt. Mein Finger legte sich auf den Klingelknopf des Vermieters. Aus Gewohnheit, weil mir daheim immer sofort die Haustür persönlich geöffnet wurde, trat ich einen Schritt zurück, verließ den Schutz des Vordachs und ließ den Regen auf mich hinabprasseln, bis dieses leise Summen ertönte und ich die alte, knarzende Tür öffnen konnte.
Mehr als Alibi trat ich meine durchnässten Schuhe an der Matte ab und trat dann meinen Weg nach oben an. Das Gebäude war alt und roch leicht modrig, vielleicht auch nach Schimmel. Es war dunkel, obwohl es mitten am Tag war, das Licht, das normalerweise das Treppenhaus erleuchten sollte, war ausgefallen. Soweit ich wusste, lag die Wohnung im dritten Stock und tatsächlich war auch genau dort die Tür zu einer Wohnung geöffnet. Eine junge Frau stand dort. Schlank. Blaue Haare. Sie wirkte etwas verloren in ihrer viel zu großen Jeansjacke, aber wahrscheinlich sollte das so sein. "Äh, hi, ich bin Ariel Schwarzkopf, ich bin hier wegen der Wohnung."
Das Mädchen ignorierte mich und im Nachhinein fand ich es selbst lächerlich, sie erstmal für die Vermieterin gehalten zu haben. Die Peinlichkeit der Situation wurde nur noch dadurch übertroffen, dass sich in der Zwischenzeit ein bulliger, nicht sehr freundlich aussehender Mann, vor mir aufgebaut hatte und ich mich so sehr erschreckte beim Umdrehen, dass ich ein paar Schritte rückwärts stolperte und direkt in die Frau hineinlief. Es wäre ein guter Moment gewesen für ein Erdbeben oder einen Mahlstrom.
"Herr Schwarzkopf, wenn Sie ein bisschen nachgedacht hätten, hätten Sie gemerkt, dass ich wohl von unten die Tür geöffnet habe und nicht von hier oben." Natürlich, rein logisch war es schon nicht anders möglich. Also war ich hier gerade Teil einer Doppelbesichtigung. Das konnte ja heiter werden. Meinen Trumpf, dass ich einigermaßen gescheit war und er vielleicht ahnen könnte, dass ich kein Partymensch war, konnte ich nun vergessen. "Tut mir Leid, Herr Kluge, ich wollte nicht..." "Schon gut. Das scheint Ihre erste Besichtigung zu sein, dass man nervös ist, ist ganz normal. Aber entschuldigen Sie sich doch bitte bei Frau... Wie heißen Sie nochmal?" Die junge Frau drehte sich um und zum ersten Mal konnte ich in ihr Gesicht schauen.
Liebe auf den ersten Blick wäre wohl zu viel gesagt, aber man konnte diesem Gesicht nicht absprechen, dass es überaus anziehend auf mich wirkte. Ein junges Gesicht, schöne blaue Augen, eine kesse Lippe, über die wohl schon so mancher Spruch gekommen war, und wie sie mit diesen Lippen wohl küssen konnte... Ihre Stimme riss mich aus den Gedanken. "Masha. Einfach Masha." Masha... Ich wiederholte den Namen mehrmals in meinem Kopf, bevor ich ihn wieder vergaß. "Sag mal, bist du behindert? Du sollst dich bei mir entschuldigen." Ich musste meinen Kopf schütteln, um die Gedanken von ihr abzuwenden. Dann lächelte ich sie mehr als freundlich an. "Tut mir Leid, dass ich dich umgerempelt habe. Kommt nicht wieder vor." "Das will ich für dich hoffen." Na toll. Sie war nicht gut auf mich zu sprechen, was wirklich schade war, aber gut. Dann musste ich meine Energie eben auf den Vermieter lenken, der doch gar nicht so unfreundlich war, wie zuerst erwartet.
Die Besichtigung selbst war schnell abgehakt. Viel gab es nicht zu sehen. Der Dielenboden war zerlaufen, knarzte, die Toilettenspülung funktionierte mit Glück, warmes Wasser gab es für fünf Minuten und das Fenster in der Küche ließ sich nur mit Gewalt öffnen. Sonst war die Wohnung perfekt. Fußläufig zum Jüdischen Museum, zum Checkpoint Charlie. Ich wollte sie unbedingt haben. Vierhundert Euro kalt. Wie gesagt. Viel zu teuer, aber in Ordnung. Masha schien ähnlich begeistert, doch was interessierte sie mich? Wir waren Konkurrenten. Und wenn sie doch meine Traumfrau war? Noch bevor ich darüber nachdenken konnte, ob ich sie um ein Date bitten sollte, hatte sie ihrerseits schon einen Plan gefasst, auch wenn ich diesen noch nicht kannte. "Sie machen das dann unter sich aus, Hauptsache nächste Woche kommt jemand vorbei, um den Mietvertrag zu unterschreiben." Oh. Wir mussten uns also einigen. "Sollen wir vielleicht heute Abend ein bisschen was trinken gehen? Ich könnte dir ein paar schöne Ecken von Berlin zeigen..." Mashas Angebot machte mich stutzig, war sie doch bisher recht ruhig gewesen. In Zusammenhang mit dem Auftrag des Vermieters erschien diese Offerte jedoch in einem anderen Licht. "Naja, warum nicht? Reden müssen wir wohl so oder so, sonst läuft das auf Hauen und Stechen hinaus."
Sie nickte, nahm ihr Handy aus der Tasche und sah mich sanft an. "Gib mir deinen kik-Namen, dann adde ich dich, aber du hast meine Nummer nicht." Etwas verwirrt schaute ich sie an, lud mir die App dann aber ohne weitere Fragen runter und nannte ihr meinen Namen. Kurz darauf machte es Ping! und der Bildschirm meines Handys teilte mir mit, dass jemand mich geaddet hatte. "Ich schreib dir dann, muss jetzt auch los." Schnellen Schrittes verließ sie die Wohnung, woraufhin ich ihr folgte, erstmal zu meinem Hotel zurückfuhr, wo ich auf eine Nachricht von ihr wartete. Was war die bessere Strategie? Sie unter den Tisch zu trinken und zu hoffen, dass sie einknickte? Oder versuchen, das ganze im nüchternen Zustand zu klären? Da ich bis zum Start des Nachtlebens noch ein wenig Zeit hatte, ging ich erstmal duschen, legte mich dann mit einem Handtuch um die Hüften gewickelt auf das gemütliche Bett und schaute ein wenig fern. Das tat ich sonst nie. Und auch jetzt wurde es mir schnell zu langweilig, sodass ich mein Laptop aus der Tasche holte und meine Mails abholte. Vielleicht hatte ja doch noch jemand auf meine Anfragen bezüglich einer Wohnung geantwortet. Tatsächlich. Jetzt hatte ich morgen direkt zwei Besichtigungen. Eine um drei, eine um sieben. Ich überlegte schon, beiden abzusagen, doch wer wusste schon, was der Abend brachte? Vielleicht hatte Masha ja wirklich gute Argumente, warum sie die Wohnung bekommen sollte und nicht ich.
"Wir treffen uns um einundzwanzig Uhr siebenunddreißig am Saturn direkt beim Alexanderplatz. Sei pünktlich." Zwei Stunden noch. Über die exakte Uhrzeit wunderte ich mich zwar, aber hinterfragte es nicht. In Berlin und für Berliner galten scheinbar andere Regeln. Ich verbrachte eine geschlagene Stunde damit, mich anzuziehen und meine Haare zu richten. Um neun Uhr dreizehn verließ ich mein Hotelzimmer und kam um dreiunddreißig an unserem Treffpunkt an. Vier Minuten zu früh. "Auf einen schönen Abend." Masha hatte sich von hinten an mich geschlichen, mit einer Hand hielt sie meine Augen zu, mit der zweiten mir ein Tuch vor die Nase. Dann wurde alles schwarz.
![](https://img.wattpad.com/cover/78262995-288-k263075.jpg)
DU LIEST GERADE
Skyline #wattys2016
RomanceEs war so, es ist so und es wird auch immer so bleiben. Das gilt für viele Dinge im Leben, aber im Leben von Ariel Schwarzkopf gilt es für eine Sache besonders. Die Skylines großer Städte haben ihn schon immer fasziniert. Seit er ein kleines Kind wa...