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LEO:

Die Jungen greifen nach mir. Sie sind überall um mich herum, einer hat seine Hand in meinem Haar und zieht daran meinen Kopf zurück, bis die Kehle frei liegt. Ein anderer hält mich fest, während Dutzende Hände versuchen, mir mein T-Shirt über den Kopf zu ziehen. Aber dafür müsste der Kerl, der mich an den Haaren festhält, loslassen. Es sind die Typen aus meinem Sportkurs, die das tun, die meine Narben sehen wollen. Kevin hat sie angestachelt. Allerdings werden sie keine Narben zu sehen bekommen, wenn es ihnen gelingt, mir das T-Shirt auszuziehen, sondern frische, blutige Wunden. Das weiß ich, weil mein Rücken wieder weh tut. Einer, der hinter mir steht und dessen Gesicht ich nicht erkennen kann, hat eine bessere Idee. Er schiebt das T-Shirt hinten hoch. Irgendwie sind wir an einer Wand angekommen. Mein Körper wird dagegen gepresst, während die Jungen sich um mich scharen und meinen Rücken betrachten. Kevin bringt sein Gesicht ganz nah an meines und sagt: Du hast es wohl nicht besser verdient, du Feigling! Alle anderen lachen mich aus. Irgendjemand stößt mich zu Boden und sie treten auf mich ein, noch immer lachend, während ich unfähig bin, mich zu wehren. Ich rolle mich zu einer Kugel zusammen, um ihnen so wenig Angriffsfläche wie möglich zu geben und schütze meinen Kopf mit meinen Armen. Blut sickert auf den Boden der Umkleidekabine, weil mein schwarzes T-Shirt schon damit durchtränkt war, bevor sie mich angegriffen haben."

Ich schlage die Augen auf. Die Nacht um mich herum ist dunkel und einen irrsinnigen Moment lang habe ich Angst, dass unter meinem Bett noch die Dämonen lauern könnten, die meinen Schlaf gestört haben. Ich fasse an meine Schultern, um mich zu vergewissern, dass ich noch heil bin. Dass ich noch im Ganzen da bin, noch immer hier. Als ich sie zurückziehe, sind meine Fingerspitzen trocken, nicht blutig. Meine Haut ist eiskalt, klamm vor Angst.

Es war nur ein Traum, sage ich mir.

„Es war nur ein Traum." Ich muss es einfach laut aussprechen, weil ich Angst habe, dass die Worte, die doch die Wirklichkeit ausdrücken, sonst nicht gegen das Gespinst des Nachtmahrs ankommen. Noch immer zitternd stehe ich auf und öffne das Fenster, um den Albtraum heraus zu lassen. Aus dem Augenwinkel sieht man den schwarzen Schatten, der nach draußen huscht, wenn man das tut. Kaum ist er weg, schließe ich das Fenster wieder. Es ist kalt draußen heute Nacht.

„Hi."

Diese Stimme ist mir nicht gänzlich unbekannt. Ich hebe den Kopf. Und höre auf zu atmen. Träume ich oder ist er es tatsächlich?

„Hi", erwiderte ich. Das war so ziemlich die letzte Luft in meinen Lungen gewesen, die diese Antwort fabriziert hatte. Muss ich atmen, wenn Cole in der Nähe ist? Ist er nicht viel besser als Luft?

„Wie geht es dir?"

„Bist du sicher, dass du zu mir willst?" Ich muss einfach fragen. Ist das möglich? Ich meine, hier sind mindestens tausend andere Leute, denen er, seit ich ihn das erste Mal gesehen habe, mehr Beachtung geschenkt hat als mir. Vielleicht verwechselt er mich ja mit irgendjemandem – ansonsten liegt das hier doch wohl kaum im Bereich des Möglichen.

Ein paar der Umsitzenden sehen bereits zu uns herüber und kichern. Cole beachtet sie nicht. Er nickt bloß. „Wenn du immer noch der Leonard aus meinem Sportkurs bist, dann ja."

Er will zu mir!

„Leo, bitte. Und ja, also, der bin ich."

„Wie geht es dir?" Ja, also jetzt, wo du hier bist: blendend!

„Gut, danke der Nachfrage. Und dir?"

„Bist du dir da sicher?" Er sieht mich mit zusammen gekniffenen Augen an. Jetzt erst verstehe ich, warum er überhaupt gekommen ist. Natürlich. Wie bin ich bloß auf die Idee gekommen, dass er einfach so wie ganz normaler Teenager um meinetwillen mit mir spricht. Es geht um den Vorfall neulich in Sport. Na, wenn das einen nicht schnell auf den Boden der Tatsachen zurückholt!

„Ja, da bin ich mir sicher." Meine Stimme klingt kühler, als ich diesmal antworte, und es tut mir fast leid, ihm nicht wichtig genug zu sein, um einfach über was Alltägliches mit mir zu reden. Ich habe mir einige Male vorgestellt, wie es sein würde, mit ihm zu reden. So was wie jetzt in der Art ist mir dabei noch nie eingefallen. In meiner Vorstellung war es immer so, dass er ein wirkliches Interesse an mir zeigen würde.

Aber hey, die Realität sieht nun mal anders aus.

Es geht hier nicht um mich. Nur darum, dass er sich um seine Mitschüler eben sorgt. Ein Unglück ist geschehen – Foto! Bitte Lächeln! Ist sicher gut für die Publicity, sich mit den armen, benachteiligten Schülern abzugeben. Er hat mich noch nie wahrgenommen, und jetzt auf einmal?

„Warum hast du so geguckt?", frage ich ihn, ehe ich die Frage noch einmal überdenken kann.

Er sieht mich konsterniert an, schien nicht zu wissen, was ich meine. Gott, er ist so schrecklich schön! Wirklich, ich hasse diesen Moment. Er ist nicht mal hier, weil ich ihm irgendwie was bedeute, verdammt!

„Wie? Wann?"

„In der Turnhalle. Du hast ausgesehen, als würdest du mich verabscheuen." Scheiße, habe ich das gerade wirklich gesagt? Wenn er das jetzt bejaht, muss ich gehen und mich im Klo runterspülen.

Ein verlegener Ausdruck huscht über sein Gesicht. „Nein, das hast du falsch aufgefasst. Ich war sauer auf Kevin, weil der dich so verletzt hatte." Es war nicht Kevin, der mich so verletzt hat. Ich habe irgendwie das Bedürfnis, ihm das zu erklären. Mein Blick huscht kurz über sein Tablett. Burger. Er isst Burger. Lecker. Darf ich nicht. Und er sieht immer noch so gottgleich schön aus, als er hineinbeißt und kaut.

„Entschuldige, ich muss das jetzt noch mal fragen, weil ich es einfach nicht glauben kann: Willst du wirklich mit mir essen?" Er sieht auf. Seinen Blick kann ich nicht deuten. Dann sieht er den Burger an, als würde ihm erst jetzt klar, was er hier tut, und diesen Blick kann ich sehr wohl deuten. Hastig rede ich weiter. Das ist jetzt eigentlich meine Chance, mit Cole Mackintosh zu reden; eine zweite wird es wohl kaum geben. Leider ist das, was aus meinem Mund kommt, qualitativ betrachtet Müll.

„Ich meine, du bist angesagt. Du spielst Football und all das. Und ich...eher nicht." Er schüttelt den Kopf. Verdammt, er will also doch nicht mit mir essen? Das tat weh. „Was?"

„Ähm. Nein. Entschuldige. Vergiss es. Ich..."

Er schluckt sein Essen hinter. Immer noch schön. Wenn er doch wenigstens hässlich wäre! Dann könnte ich vielleicht glauben, dass er sich wirklich mit mir abgeben will!

„Nein, zum Teufel! Du glaubst das wirklich, oder?"

Ich sehe zur Seite. Ich hätte nicht fragen sollen.

„Das tust du.", sagt er fassungslos, wie zu sich selbst. Sein Blick bohrt sich in meinen.

„Leo, nur, weil ich Football spiele und vielleicht angesagter bin als du, bist du deswegen doch noch lange nicht weniger wert!" Das sieht mein Vater anders. Er zeigt mir gern, wie wertlos ich eigentlich bin. Er hätte sicherlich gern einen Sohn wie Cole.

„Nun...ja. Ich glaube, doch."

„Bist du verrückt? Du bist wahnsinnig gut in der Schule, viel besser, als ich es je sein werde! Und du bist verdammt gut darin, unauffällig zu sein. Naja, bis gestern", sagte er und grinst. „Du hast überhaupt keinen Grund, dich minderwertig zu fühlen!"

Ich werde gleich anfangen zu sabbern, wenn ich dieses Lächeln noch ein wenig länger bewundern darf. Der Mann meiner Träume! Und er hat mir gerade gesagt, dass ich irgendwie ...in irgendeiner Form...in irgendetwas...richtig gut bin!

Obwohl ich da nicht so stolz darauf sein sollte, er hat noch im selben Satz „unauffällig" erwähnt...Aber ich weigere mich, mir das Glücksgefühl, das mich durchströmt, deswegen nehmen zu lassen.

Meine Mundwinkel heben sich ganz von allein zu diesem leichten Lächeln, das das einzige ist, was ich zu bieten habe.

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A./N. Hey, ihr Lieben! Ich dachte mir, dass das letzte Kapitel ein bisschen lang war, deswegen kommt hier ein kürzeres. Was ist euch lieber zum Lesen? Ich freu mich über Feedback :)

Have fun!

Sophia


Schattenseiten 1 - Leo ACHTUNG, diese Story wird nicht auf wattpad beendet!Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt