Outing

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"Natürlich bist du heterosexuell", hörte ich sie auch noch Stunden später sagen. Sie sagte heterosexuell ganz schnell, als wäre es ihr peinlich.
"SEX, SEX, SEX, LIEBE", hätte ich ihr am liebsten in die Ohren gebrüllt. Aber ich sah die Blicke der anderen Familienmitglieder.
Verunsichert. Verstört. Etwas ist da total aus dem Ruder gelaufen.
Und dieses etwas war ich.
Aber was hätte man auch sonst von einem schwarzen Schaf, wie mir denken können?
Mein Outing war aber nicht das einzige, was an diesem Familiennachmittag stattfand. Und das zweite Outing war eine noch größere Überraschung. Ich meine, von mir konnte man ja nicht viel erwarten. Ich hatte kein Abitur, ich konnte nicht gut mit Erwachsene reden, ich kleckerte beim Essen und mein Kleidungsstil entsprach wahrscheinlich auch nicht dem Ideal meiner Familie.
Aber dass meine Cousine aufstand und sagte:"wieso lasst ihr sie nicht sein, wie sie ist?", das hätte niemand erwartet. Meine Cousine, angehende Ärztin, 1-er Abitur, redegewandt, einwandfreie Tischmanieren, durch und durch schick angezogen.
Und noch weniger hätten sie erwartet, dass sie sagte, sie sei nicht heterosexuell.

"Ach ja, die arme Verwandschaft", dachte ich mir und verdehte die Augen," es ist ja so schlimm, wenn sich Gleichgeschlechtliche lieben".
Ich war verärgert. Fuchsteufelswild. Nachdem rege Diskussionen begannen, ob es überhaupt eine andere Liebe gibt, als die zwischen Mann und Frau und nachdem sie mich und meine Cousine ausfragen und umstimmen wollten, bin ich sofort in meine Turnschuhe geschlüpft und weggelaufen. Und über meine Schubändel gestolpert.
Ich saß auf der Schaukel, mit starrem Blick und bluteten Knie.
Hinter mir näherten sich Schritte. Vorsichtig. Zaghaft.
Fast hätte ich laut "Lass mich in Ruhe!" geknurrt, aber dann erkannte ich die Schuhe.
Ganz saubere Stiefel, sehr elegant.
Meine Cousine setzte sich auf die Schaukel neben mir. Ich starrte noch immer vor mir hin und wartete darauf, dass sie irgendetwas sagte.
Aber alles, was von ihr zu hören war, waren Atemzüge. Und Schluchzer. Diese ließen mich aufblicken. Meine perfekte Cousine, mit knallroten Augen, die ihre hellblauen Augen noch mehr betonten, verzausten Haaren und Tränen, die wie ein Bach über ihre Wangen flossen.
"He", krächzte ich. Ich wollte ihr viel sagen, so was wie "alles wird gut" oder, dass sie tapfer war, oder, dass es in Ordnung ist, so zu sein, wie sie ist.
Aber dann umarmte ich sie nur.

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