Kapitel 5: Schurken, Helden und ein Wiedersehen

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»Aber, aber Mylady, wer wird denn weinen?«

Sie sah erschrocken auf, als sie eine eisig kalte Hand auf ihrer Schulter fühlte und die Stimme mit dem starken, osteuropäischen Akzent hörte.

Der Mann, zu dem Hand und Stimme gehörten war groß, geradezu beängstigend ragte er über der kleinen Madam auf, und ausgesprochen dünn.

Madam Crawford war selbst hager, aber dieser Fremde übertraf sie noch bei weitem, als hätte er seit Jahren nichts mehr zu sich genommen. Sein Gesicht war alt, die Haut wächsern und eingefallen, als wäre er gerade einer Gruft entstiegen, doch der Griff um ihre Schulter wirkte alles andere als gebrechlich.

Der Fremde lächelte. Es wirkte hinterhältig auf die Madam, in seinen Augen funkelte Gier und schließlich offenbarte er zwei monströse Fangzähne.

Madam Crawfords Gedanken überschlugen sich. Dieser Fremde, war er etwa auch eine literarische Figur? Der Schurke aus dem Vampir-Roman dieses verrückten Iren vielleicht? Und was noch viel wichtiger war: Drohte ihr von diesem Wesen ernsthafte Gefahr?

Sie war dankbar, dass sie keine Gelegenheit bekam, es herauszufinden, denn ein Retter in der Not war bereits zur Stelle.

Die schlanke Klinge eines Degens schob sich blitzschnell zwischen die ungleichen Gestalten, bevor die Fänge des Unholds auch nur in die Nähe von Madam Crawfords Hals kommen konnten. Sie gehörte einem jungen Recken mit breitkrempigem Hut mit Feder und einem alt-blauen Waffenrock, auf dem ein weißes Kreuz thronte.

Mühelos erkannte die alte Dame den Helden des Abenteuerromans, den ihre beiden Söhne, James und Viktor, immer so gerne gelesen hatten.

»Scher dich zurück nach Transsylvanien, wo du hingehörst!«, bluffte der Junge selbstbewusst und sein französischer Akzent ließ keinen Zweifel an seiner Herkunft.

Tatsächlich ließ der Vampir fauchend von der Madam ab, verbarg sich in den tiefen Schatten der Regale.

»Danke sehr«, brachte die alte Dame noch immer erschrocken und schluchzend hervor.

Der Junge zog schwungvoll seinen Hut und vollführte eine tiefe Verbeugung. »Stets zu Diensten, Madame.«

Zwischen den Büchern im Regal hinter ihm, lugten neugierig und zugleich scheu einige Feen und Kobolde zu Madam Crawfords Sessel. Sie konnte auch einige der Amazonen zwischen den Regalen am Kamin hervor spähen sehen. Offenbar hatte sie die Wesen sehr erschreckt und das tat ihr zutiefst leid. Sie räusperte sich.

»Bitte verzeihen Sie, Ladies und Gentlemen«, setzte sie nicht laut, aber in der Stille der Bibliothek gut hörbar, an. »Es war keines Falls meine Absicht, Sie zu verscheuchen. Allerdings war ich nicht darauf gefasst, heute Abend einer so außergewöhnlichen Versammlung beiwohnen zu dürfen. «

Hinter einem Regal nahe der Tür erklang vielstimmiges Gekicher und schließlich traten einige blumengeschmückte Mädchen zögernd hervor. Vermutlich Nymphen aus griechischen Sagen oder dergleichen. Tanzend umkreisten sie die Hausherrin in ihrem Sessel, noch immer argwöhnisch, doch bald leichtfüßig und sicher, dass von der alten Dame keine Gefahr drohte.

Alsbald löste sich eine von ihnen aus dem Ringelreihen. Ihr blondes Haar war von weißen Lilien bekränzt und ihr Gewand dunkel und glänzend wie das Gefieder des stattlichen Raben, der sich auf der Athene-Büste auf dem Kamin niedergelassen hatte und alles argwöhnisch und hoheitsvoll im Blick hielt.

Auffordernd reichte sie der Madam die Hand.

Die alte Dame überlegte nicht lange, denn wie oft hatte man wohl, egal ob in Wahn oder Wirklichkeit, die Gelegenheit mit Nymphen zu tanzen?

Als Madam Crawford die Hand der Nymphe ergriff, begab sich einmal mehr höchst seltsames, denn zusehends wurde aus der alten Frau wieder ein junges Mädchen. Der strenge, von der Zeit graugefärbte Dutt wurde wieder zu kastanienfarbenen Locken, ihre Augen wurden klarer und aus dem hageren Leib wurde der zierliche Mädchenkörper, den das Jugendportrait zeigte.

Von der Verwandlung berauscht und beflügelt, ließ sie sich von den Nymphen zu wildem Tanz hinreißen und vergaß ihren Kummer schnell.

Nunmehr lachend drehte sie sich mit den Mädchen aus Fabeln und Mythen im Kreis, bis sie endlich eine Stimme vernahm, die ihren Namen rief: »Clementine. «

Sie wandte sich um und dort, am Kamin, die silberne Taschenuhr seines Vaters in der Hand, stand kein anderer als ihr Mortimer, ebenfalls in verjüngter Gestalt.

Augenblicklich ließ Clementine die Hände der Nymphen los und lief auf ihren Gatten zu, schmiegte ihre Wange an seine Brust.

Nie war sie glücklicher gewesen, ihn zu sehen. Wie aus weiter Ferne, hörte sie die literarischen Figuren jubeln, als er sich zu ihr beugte und sie küsste.

Zu der Flötenmusik von Faunen und dem dumpfen Takt eines Herzschlags, der seinen Ursprung unter den Dielen haben mochte, feierten Clementine und Mortimer das wohl außergewöhnlichste und großartigste Fest, das die altehrwürdige Bibliothek je gesehen hatte.

Im Osten erwachte der Morgen, als der Rabe auf dem Kaminsims erneut sein heiseres »Nimmermehr« rief und das erste Licht des neuen Tages wischte ihn hinfort, ebenso wie das unglückliche Mädchen, das sich am Kamin den Dolch ihres toten Liebsten ins Herz stieß. Die Nymphen und die Faune vergingen, die Nachmahre und Vampire flohen zurück in ihre Schauerromane und schließlich wischte das Morgenrot auch Clementine und Mortimer fort; trug sie hin zu silbernen Ufern und Palästen aus Glas und Gold und vom Spuk der Nacht blieben nur Staub und Asche im Kamin.

Von der alten Dame und anderen GeschichtenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt