Kapitel 4: Erinnerungen an Mortimer

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Seufzend sank die alte Dame zurück in den Ledersessel, nicht wissend, ob das, was sie gerade gesehen hatte, Traum, Wahn oder doch die Wirklichkeit gewesen war.

»Ach, mein lieber Morty... Das hätte dir gefallen...«, murmelte sie leise.

Ja, die nächtlichen Ereignisse in der Bibliothek wären tatsächlich ganz nach Mortimers Geschmack gewesen, hatte er doch seit jeher ein Faible für das Mystische, Übernatürliche und Unerklärliche. Gerade die Geschichten, in denen sich Realität und Phantasie trafen und so untrennbar vermischten, dass man nicht mehr wusste, wo das Eine aufhörte und das Andere begann, waren ihm die Liebsten gewesen. Ganz zu schweigen von den Berichten von Geistererscheinungen und Séancen, die er regelrecht sammelte.

Mortimer war immer überzeugt gewesen, dass es mehr in der Welt gab, als Mensch und Wissenschaft verstehen konnten.

Oh, natürlich hatte Madam Crawford die anderen Damen tuscheln gehört, wenn sie sich zu Bridge und anderen Kartenspielen trafen. Selbst niedere Bedienstete verbargen ihren Klatsch und Tratsch besser als die meisten Damen und Herren von Stand.

Schon in jungen Jahren hatte Mortimer den Ruf eines schrulligen Phantasten, der den Boden der Tatsachen nicht mehr sah, weil er mit dem Kopf in den Wolken schwebte.

Eigentlich hatte niemand so recht verstanden, wie sich eine hübsche und durch und durch ernsthafte junge Dame, wie Madam Crawford es damals gewesen war, sich auf solch einen hoffnungslosen Traumtänzer hatte einlassen können. Dennoch waren alle der offenkundigen Meinung gewesen, dass es vielleicht ganz gut so war. Die Gesellschaft hatte geglaubt, die junge Miss könnte Mortimer etwas zur Vernunft bringen. Doch erstaunlicherweise geschah eigentlich eher das Gegenteil: Mortimer brachte Magie und Chaos in das vernünftige, geordnete Leben der jungen Frau. Und zu ihrer eigenen Überraschung gefiel es ihr.

Sie mochte, dass Mortimer die Welt zuweilen mit den Augen eines übergroßen Kindes betrachtet hatte.

Wenn jemand Stein und Bein schwor, einen Geist gesehen zu haben, verurteilte er diese Person nie vorschnell und tat es als Hirngespinst ab, sondern schenkte der Behauptung Glauben, bis zweifelsfrei etwas Anderes bewiesen werden konnte. Auch das hatte ihr an ihm gefallen.

Und entgegen der allgemeinen Meinung ging Mortimer sogar höchst wissenschaftlich vor, wenn er sich mit seinen unerklärlichen Phänomenen beschäftigte. Selbst das Sterben hatte er mehr als eine Forschungsreise, eine Entdeckerfahrt in eine andere, geheimnisvolle Welt betrachtet.

Die Erinnerung an ihren Gatten trieb der alten Dame die Tränen in die Augen. Nach diesem merkwürdigen Erlebnis war die Trauer um Mortimer frisch und schmerzhaft wie am ersten Tag. Es war, als sei eine alte, verheilt geglaubte Wunde unerwartet aufgebrochen und hätte wieder begonnen zu bluten.

Bald war alle Würde von der kleinen Gestalt Madam Crawfords gewichen und die alte Dame weinte wie ein müdes Kind, das keinen Schlaf finden konnte.

Von der alten Dame und anderen GeschichtenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt