Kapitel 2: Verwirrende Geschehnisse

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Als Madam Crawford erwachte, war die Lampe auf dem Tisch ausgegangen. War sie eingeschlafen? Das war doch überhaupt nicht ihre Gewohnheit. Wie spät war es eigentlich?

Blinzelnd blickte sie zur Uhr auf dem Kaminsims. Doch das, was sie dort am Kamin sah, erschreckte sie so sehr, dass sie nicht einmal einen Laut von sich geben konnte.

Dort, vom schummrigen Schein der Glut nur spärlich beleuchtet, standen zwei fremde Männer.

Sicherlich Einbrecher, schoss es der alten Dame durch den Kopf. Nun war sie dankbar für den Schreck, der sie in diesem ersten Moment hatte stumm werden lassen.

Die beiden Fremden hatten sie nicht bemerkt und sie hatte auch nicht vor, sich bemerkbar zu machen. Wenn sie still blieb, waren ihre Chancen mit dem Leben davon zu kommen, bestimmt am größten. Man hörte ja so vieles von Raub, Mord und Totschlag. Die Zeitungen waren voll davon.

»In der Tat, höchst bemerkenswert«, hörte Madam Crawford einen der Männer sagen. Es war der Größere von beiden, wie sie mit verstohlenem Blick an der Lehne vorbei erkannte. Mit seinem eleganten Inverness-Mantel, der Deerstalker-Mütze und der Pfeife, wollte er so gar nicht in Madam Crawfords Bild eines Einbrechers passen.

Sein Kumpan, ein mittelgroßer, athletischer Mann, war in einen gut sitzenden Anzug gekleidet und sah ebenfalls eher wie ein veritabler Gentleman, als wie ein niederträchtiger Einbrecher aus. Ja, mit dem Tweed-Jacket und dem intelligenten Blick wirkte er eher wie jemand, der vielleicht Arzt oder sogar Professor an einer Universität sein mochte.

»Höchst geschmacklos, wenn Sie mich fragen«, erwiderte der Kleinere auf die Feststellung des ersten. »Wer sich so etwas aufhängt, kann nicht ganz bei Trost sein.«

Offenbar unterhielten die Männer sich über das Portrait über dem Kamin. Doch bevor sie Gelegenheit hatte, sich angemessen über diese Frechheit zu echauffieren, traf sie der nächste Schreck in dieser Nacht, der Madam Crawford sprachlos machte.

Wo eben noch das Jugendportrait Mortimers und ihrer selbst gehangen hatte, in eben diesem Rahmen, hing nun ein gänzlich anderes Bild. Und die Witwe musste zugeben, dass dieses wirklich durch und durch geschmacklos war.

Eine Schauergestalt mit breitem Grinsen und fast kahlem Haupt, welches Madam Crawford an einen Schädel erinnerte, glotzte aus hervorgetretenen, wässrigen Augen, in denen sich der Wahnsinn zu spiegeln schien, in die Bibliothek. Als wäre der pure Anblick dieses Portraits einer Leiche noch nicht schauderhaft genug, strahlte es etwas aus, was Madam Crawfords Herz einen Moment lang aussetzen ließ, etwas Grausames und ganz und gar Unmoralisches. Und dennoch war die alte Dame auf geradezu abscheuliche Art gebannt von diesem Bildnis des Schreckens. Es besaß eine Lebendigkeit, die ihm das Grauen eines fürchterlichen Unfalls verlieh, bei dem man nicht hinsehen wollte, aber dennoch nicht fähig war, den Blick abzuwenden.

Ja, es schien sogar so, als faulte und rottete die Gestalt gerade jetzt, unter dem faszinierten Blick der Madam weiter, mit jedem Moment etwas mehr.

Je länger die alte Dame hinsah, umso bekannter kam ihr dieses Portrait vor. So seltsam es auch klingen mochte, sie hatte das Gefühl, dieses Bild zu kennen, obwohl sie hätte schwören können, dass sie es in diesem Augenblick zum ersten Mal sah. Und genauso verhielt es sich, wie sie feststellte, auch mit den beiden Gentlemen, welche sich mittlerweile in ein leises Gespräch vertieft hatten; keinen hatte sie je zuvor gesehen und doch kamen sie ihr bekannt vor.

Aus dem Schatten eines wuchtigen Bücherschranks aus Erlenholz, trat nun ein kleines Mädchen, vielleicht gerade zwölf Jahre alt. Adrett war das junge Fräulein anzusehen, ihr blaues Kleid und die blütenweiße Schürze brachten Farbe in die Bibliothek. Doch wo, in Gottes Namen, war die Kleine denn nur so plötzlich hergekommen? Kleine Mädchen wuchsen schließlich nicht einfach aus dem Boden!

»Verzeihung«, sagte das Mädchen höflich und knickste artig vor den beiden Erwachsenen. »Haben die Herren vielleicht ein weißes Kaninchen gesehen?«

Als wäre es das natürlichste der Welt, mitten in der Nacht in einer fremden Bibliothek von einem kleinen Mädchen nach einem weißen Kaninchen gefragt zu werden, lüpfte der Mann seine Deerstalker-Mütze und erklärte freundlich, dass er nichts dergleichen gesehen habe. Sein Begleiter pflichtete ihm bei.

Von der alten Dame und anderen GeschichtenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt