Kapitel 2: Familienangelegenheiten

62 20 5
                                    

Toccata fand eine seltsame Befriedigung in dem Gedanken, dass all dieser Luxus ihn letztlich doch nicht vor dem Schicksal aller Menschen bewahren würde. Auch er würde ohne feinen Zwirn und erlesenes Porzellan, ohne Diener und Ländereien, ohne Schmuck und Brieftasche vor seinen Schöpfer treten, genau wie ihr Vater, genau wie der alte Bettler im Park, genau wie das kranke Kind ihrer Nachbarin, denn der Tod machte keinen Unterschied zwischen ihnen allen.
Der Mann vor ihr stiess ein Seufzen aus und wandte sich zum gehen.
Überrascht hielt er inne, als sein Blick auf die unerwartete Beobachterin fiel. „Oh." Dann zog er in einer Geste der Höflichkeit den Hut und deutete eine Verneigung an. „Guten Abend, Miss."
Verblüfft stammelte Toccata eine Antwort. Sie hatte nicht erwartet, angesprochen zu werden. Mit ihrem wilden Haar und den abgetragenen, dürftig geflickten Kleidern, die sich wohl kaum einer modischen Bewegung zuordnen liessen, passte sie einfach nichts ins Bild der feinen Herrschaften und wurde - wenn überhaupt - höchstens mit mitleidigen oder angewiderten Blicken bedacht.
Sie wollte schon an dem Mann vorübereilen, als er erneut das Wort an sie richtete: „Verzeihen Sie meine Neugier, aber dürfte ich wohl fragen, was eine junge Dame veranlasst, zu dieser Uhrzeit mit einer Geige auf einem Friedhof herumzuspazieren?"
„Was veranlasst einen reichen Herrn dazu, zu dieser Urzeit auf einem Friedhof herumzuspazieren?", fragte Toccata schnippisch zurück. Was ging es ihn an?
„Nun, wie sie sich vielleicht denken können, besuche ich die Familie. Meinen Vater, um genau zu sein", erklärte der Unbekannte und zeigte mit seinem Gehstock auf die Alabasterplatte neben der Tür der Gruft, auf der die Namen, Geburts- und Sterbedaten der hier Beigesetzten eingraviert waren. Der neuste „Zugang" zu dieser Ruhestätte - ein Mr. Nathan Crawford - war noch keinen Monat tot.
Mit einem Mal tat Toccata ihre freche Art leid, obwohl ihr Gegenüber sich nicht im mindestens daran zu stören schien, oder zumindest liess er sich nichts davon anmerken.
„Das tut mir leid...", murmelte sie.
„Oh, nicht doch, das muss es nicht." Er lachte. „Der Tod ist auch nur ein Teil des Lebens und ich habe Sie schliesslich zuerst nach Ihren Angelegenheiten gefragt. Da ist es nur recht und billig, mich auch nach den Meinen zu fragen."
Toccata musterte den Mann aufmerksam. Sie schätzte ihn auf Anfang dreissig, doch sein Gesicht war bartlos, was ihn jugendlicher wirken liess als andere Männer seines Alters. Unter seinen dunklen Augenbrauen funkelten zwei braune Augen, die sie mit der unverhohlenen Neugier eines kleinen Jungen ebenso interessiert musterten.
„Auch ich besuche meinen Vater", erklärte sie schliesslich leise.
„Mein Beileid, Miss", sagte Mr. Crawford, während sein Blick noch immer auf ihr lag, als spürte er, vielleicht auch ohne sich dessen bewusst zu sein, dass etwas Ungewöhnliches an Toccata haftete. „Das erklärt - mit Verlaub - aber noch nicht die Geige."
„Mein Vater war Musiker, die Geige hat ihm gehört", erörterte sie weiter und bedachte das Instrument mit einem zärtlichen Blick.
„Oh, dann wollen Sie ihm also sein Instrument ans Grab bringen?"
Toccata schüttelte energisch den Kopf, so dass ihre dichten, schwarzen Locken ihr für einen Moment die Sicht nahmen. „So ist es nicht. Vater würde sich im Grabe umdrehen, wenn ich seine geliebte Geige derart Regen und Schnee aussetzen würde!"
„Was also haben Sie vor?" Mr. Crawford dachte einen Moment lang mit einem geradezu lächerlich ernsthaften Gesichtsausdruck über diese Frage nach. Dann leuchteten seine Augen vor Begeisterung auf. „Spielen Sie vielleicht sogar selbst und wollen ihm vorspielen?"
Toccata errötete, ohne dass sie sich erklären konnte, wieso.
„Ja, genau das gedenke ich zu tun.", gab sie zu. „Aber ich spiele nicht so gut wie er."
„Ach was, ich bin überzeugt, Sie spielen ganz wunderbar. Ich würde Ihnen wirklich gerne dabei zuhören, also warum spielen Sie nicht etwas für mich?", fragte Mr. Crawford und füge nach einer kurzen Pause hinzu: „Ich bezahle Ihnen Ihre Mühe auch gern, wenn Sie das möchten."
Toccatas Scham kannte keine Grenzen. Sicher, sie konnte jeden Penny gut gebrauchen, aber die Geige ihres Vaters taugte schon lange nicht mehr, um für zahlendes Publikum zu spielen.
„Verzeihen Sie, aber die Geige ist völlig verstimmt. Um ehrlich zu sein..." Toccata senkte die Stimme und beugte sich verschwörerisch zu ihrem Gegenüber, fast, als fürchtete sie, es könnte plötzlich eine Saite reissen und ihr wie einem unartigen Kind auf die Finger schlagen. „...sie klingt ziemlich fürchterlich."
Mr. Crawford lachte.
„Aber das macht doch nichts. Viel wichtiger als ein perfekt gestimmtes Instrument ist doch das Herz des Musikers, der dieses Instrument spielt. Schliesslich ist Musik doch die Sprache des Herzens. Was machen da schon ein paar schiefe Töne? Perfekte Musik hat ohnehin etwas Kaltes, Seelenloses an sich, finde ich." Er zwinkerte Toccata zu.
Sie seufzte.
„Na gut, Sie wollen es ja nicht anders", lenkte sie schliesslich ein. „Aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt!"

Rhapsodie in LilienweissWo Geschichten leben. Entdecke jetzt