Kapitel 8: Licht

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„Nicht doch, Miss." Nathan Crawfords Stimme erschreckte Toccata so sehr, dass sie sich grob verspielte - nicht, dass das tatsächlich noch aufgefallen wäre - und ein kleiner Aufschrei den Weg über ihre Lippen fand. „Spielen Sie, in Gottes Namen, Miss, spielen Sie."
Nach wie vor konnte sie ihn nicht sehen, doch in Mr. Crawfords Stimme lag ein gewisser Trost. Und vielleicht war die Rhapsodia doch eine Art Schild gegen diesen Schatten? Vielleicht war sie wirklich sicher, solange sie nur spielte, ganz gleich, wie ohrenbetäubend falsch es auch klingen mochte?
„Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass Sie sicher sind, solange Sie spielen. Aber Sie dürfen nicht aufgeben. Dieser Schatten, er scheint gefallen an der Jagd zu finden, es bereitet ihm Vergnügen, Sie herumzuscheuchen. Sobald Sie aber aufgeben, sind Sie nicht mehr von Interesse und wer weiss, was Ihnen dann blüht? Also spielen Sie weiter, kämpfen Sie, Miss Toccata. Denn noch ist nicht alles verloren."
Toccata nickt unter Tränen. Mr. Crawford hatte Recht, sie konnte sich nicht einfach so unterkriegen lassen.
„Na also, das ist schon besser!" Trotz der Ernsthaftigkeit der Situation schwang in Nathan Crawfords Stimme eine gewisse Selbstzufriedenheit mit. „Hören Sie mir gut zu, Miss. Um einen Schatten zu bekämpfen, kann es - der Logik folgend - nur eines geben: Sie brauchen Licht."
Toccata runzelte die Stirn. Woher sollte sie denn ein Licht nehmen? Selbst die Grabkerzen waren erloschen, wie Toccata jetzt auffiel. Himmel, sie hätte wirklich eine Laterne mitbringen sollen!
„In meiner Gruft sind einige Kerzen", beruhigte Mr. Crawford Toccatas erneut aufkommende Verzweiflung. „Es brennt nur eine davon, aber ich glaube, ich kann ihnen die Tür öffnen und ihnen genug Zeit verschaffen, um die restlichen anzuzünden."
Es würde noch ein paar Stunden bis zum Morgen dauern und die Vorstellung, diese Stunden in einer Gruft ausharren zu müssen war alles andere als behaglich, aber es war dennoch eine Chance, dem unheimlichen Schatten, und vielleicht dem Gevatter Tod selbst, zu entkommen.
Dieser Lichtblick am dunklen Horizont liess Toccatas Spiel erneut erstarken. Fortissimo schollen die schiefen Klänge über die Gräber, während das Mädchen sich Schritt für Schritt in Richtung der Crawfordgruft zurückzog. Der Blick, den sie dem Schatten zuwarf, war streitlustig, geradezu, als wollte sie sagen: „Komm doch! Ich habe keine Angst mehr vor dir!", doch sie hatte Mühe, ihr Zittern, ihren flachen Atem zu verbergen. Sie schickte ein stummes Stossgebet zum Himmel, dass Mr. Crawfords Plan von dem Schatten ungehört geblieben war, denn der böse Blick und das laute Spiel ihrer Geige schienen ihn nicht im Mindesten zu beeindrucken. Ihr war sogar, als wüchse die Schattengestalt jedes Mal, wenn sie ihr wieder etwas näher kam.
Aus dem feuchten Schmatzen, das ihre Schritte am frühen Abend verursacht hatten, war durch die zunehmende Kälte ein leises Knirschen geworden. Zweimal glitt sie beinahe auf dem von Schnee und Eis glatten Boden aus, doch Toccata wagte nicht, sich umzusehen und sich zu vergewissern, dass sie in die richtige Richtung stolperte. Ihr Weg schien sich über Stunden hinzuziehen, obwohl sie nur wenige Meter von der Gruft entfernt gestanden hatte. Es konnte doch kaum sein, dass das so lange dauerte?
„Nur noch ein, zwei Schritte, dann sind Sie da", liess Nathan Crawford sie in diesem Moment wissen und Toccata atmete erleichtert auf.

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