Der Abendstern stand tief und einsam in der veilchenblauen Dämmerung und jeder ihrer Schritte durch den feuchten Novemberschnee verursachte ein ekelhaftes, schmatzendes Geräusch. Im Gegensatz dazu standen das rhythmische Klopfen ihrer Finger gegen die schmiedeeisernen Stäbe des Friedhofszauns und das leise, chaotische Klingeln ihrer unzähligen Armreifen. Ansonsten war es still, die wenigen Vögel, die nicht gen Süden gezogen waren, schwiegen bereits für die Nacht.
Fröstelnd liess Toccata von den Stäben des Zauns ab und zog ihren Mantel dichter um sich. Es würde eine lange Nacht werden.Als sie den Bürgersteig verliess und stattdessen auf den Kiesweg des Holywell Friedhofs einbog, wurden ihre leichten, beinahe tanzenden Schritte jäh unterbrochen. Der Beutel, den sie in der Hand trug, war an einem der kürzeren, eher einem dekorativen Zweck dienenden, Stäbe des Tors hängen geblieben, riss Toccata zurück und gab schliesslich mit einem leisen Ratschen nach. Das Geräusch hätte das Mädchen nicht mehr erschrecken können.
Mochte ihr der Beutel auch egal sein - sie konnte ihn mit ein paar wenigen Handgriffen wieder zusammennähen -, so fürchtete sie doch um den Inhalt des unscheinbaren Stoffstückes.
Hastig zog sie ihren wertvollsten Besitz, das Vermächtnis ihres verstorbenen Vaters, hervor.
Die Geige, sorgfältig poliert und kunstfertig mit Lilien und Eisenhut bemalt, war unversehrt geblieben, soweit Toccata in der zunehmenden Dunkelheit erkennen konnte. Erleichtert atmete sie auf. Vorsichtig strich sie über die Saiten, setzte den Bogen an und spielte einige Klänge, als wollte sie testen, ob es denn noch ginge.
Die Töne, die sie hervorbrachte, waren unsauber und verstimmt, als wären sie selbst dem Tode nah; es schien etwas anklagendes darin zu liegen, fand Toccata, als hätte man die Geige mit ihrem Vater begraben müssen, als beschwerte sie sich auf diese Art darüber, nicht bei ihrem Herrn sein zu können. Aber natürlich war das Unsinn, das Instrument litt bloss unter der Feuchtigkeit zahlreicher Sommer und der Kälte ebenso vieler Winter.
Sie seufzte und setzte ihren Weg zwischen den Grabsteinen hindurch fort, einige Fasane flohen unter misstönendem Gegacker, als Toccata eine Abkürzung durch eine Gruppe von Birken nahm. Ein zweites Mal blieb sie abrupt stehen.Sie hatte nicht erwartet, in der herannahenden Dunkelheit noch andere Besucher hier anzutreffen. Den meisten Leuten waren Friedhöfe bei Nacht oder Dämmerung unheimlich, doch offenbar nicht so dem jungen Mann, der ein paar Meter von ihr entfernt vor einem kleinen, von Moos und Efeu halb überwucherten Gebäude - vermutlich einer Familiengruft - stand.
Die schlanke Gestalt hatte ihr den Rücken zugewandt, so dass sie sein Gesicht nicht erkennen konnte. Der stilvoll gearbeitete Gehstock in seiner rechten Hand, der mattschwarz schimmernde Zylinder auf seinem Kopf und der äusserst feine Wollstoff seines ebenfalls schwarzen Mantels, bestätigten Toccata jedoch, was die Familiengruft bereits ankündigte: Vor ihr stand ein Mitglied der Oberschicht, ein feiner Pinkel, der für ihresgleichen nur Verachtung übrig hatte, während er sich irgendwo in einem viel zu grossen Haus von einem pickeligen Hausmädchen den Tee servieren liess.
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Rhapsodie in Lilienweiss
ParanormalNach dem Tod ihres Vaters soll Toccata dessen Vermächtnis allein weiter führen und die Geister Oxfords mit Hilfe der Rhapsodia Liliorum tanzen lassen. Doch an diesem Abend stimmt etwas nicht.