Kapitel 4: Eine besondere Gabe

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Erneut atmete Toccata tief ein, schloss dabei die Augen und setzte die Geige an. Als sie die Augen wieder öffnete und den angehaltenen Atem ausstiess, begleitete ein einzelner Geigenton das kleine Wölkchen, das ihren Mund verliess. Der Ton war langgezogen und klagend, doch völlig klar, von den unsauberen, misstönenden Klängen zuvor war jede Spur verschwunden.
Dem ersten Ton folgte eine zweiter auf dem Fusse; In langsamem 4/4-Takt baute sich Note um Note jenes geheimnisvolle Lied auf, das Toccatas Vater die „Rhapsodia Liliorum" genannt und nur auf Friedhöfen gespielt hatte.
Toccata fröstelte, doch spielte sie tapfer weiter. Mit jedem Takt schien es kälter zu werden.
Leichter Nebel zog auf, wirbelte im Wind, bis sich schliesslich verschwommene Umrisse daraus formten.
Bald war Toccata umgeben von dunstigen Gestalten, die förmlich und steif im Takt der Musik um sie her tanzten. Und mit jedem Schritt, mit jeder Drehung wurden die Gestalten klarer, so dass Toccata bald sogar feine Muster auf der Kleidung der Tänzer ausmachen konnte, und wären sie nicht durchscheinend gewesen, hätte Toccata selbst kaum glauben können, dass sie von Geistern umgeben war.
„Du und ich, wir haben eine besondere Gabe, Toccata", hatte ihr Vater immer gesagt. „Nicht jedem, der stirbt wird auch Einlass ins Jenseits gewährt. Manche von ihnen müssen noch eine Weile hier bleiben. Und in dieser Zeit lassen du und ich sie tanzen."

Wispernd und raunend glitten die Tanzenden an Toccata vorbei, ohne dass sie die Worte der Geister verstehen konnte. Es war seltsam, alleine mitten unter all diesen Toten zu stehen. Ihr Vater hatte die tanzenden Geister immer als verlorene Seelen gesehen, von denen manche tanzten, um sich zu erinnern und manche um zu vergessen. Er mochte nicht wissen, warum diese Seelen verloren gegangen waren, warum ihnen der Zutritt ins Himmelreich verwehrt worden war, aber er war sich sicher, dass der Tanz zur Rhapsodia Liliorum sie einen Schritt näher an die ewige Ruhe, das immerwährende Glück des Paradises brachte.

Ich habe eine Bitte an Sie, Miss Toccata."
Die sonore, warme Stimme schien in Toccatas Kopf widerzuhallen, wie in einem grossen, leeren Raum; sie übertönte jeden anderen Gedanken und das wirbelnde, vielstimmige Gewisper der anderen Geister.
Als sie zum ersten Mal von einem Geist angesprochen wurde, war sie gerade acht Jahre alt gewesen und hatte sich verschreckt an ihren Vater gedrückt. Noch immer jagte es ihr einen unangenehmen Schauer über den Rücken, plötzlich eine Stimme in ihrem Kopf zu hören, als hätte diese genau dort ihren Ursprung. Doch die Angst, die sie damals noch empfunden hatte und die Verwunderung, von jemandem, den sie noch nie zuvor getroffen hatte mit ihrem Vornamen angesprochen zu werden, war über die Jahre verschwunden und mittlerweile war es lediglich eine kleine Unannehmlichkeit. Es fühlte sich in gewisser Weise falsch an, so als dächte sie die Gedanken von jemand anderem.
Ohne ihr Spiel zu unterbrechen - die Rhapsodia Liliorum konnte ohnehin schon Stunden andauern - sah Toccata sich um, versuchte heraus zu finden, welcher der vielen Geister sie gerade angesprochen hatte.
Ihr Blick blieb am Geist eines älteren Gentlemans mit dünnem, grauen Backenbart und einer kleinen, golden schimmernden Brille, die ungewöhnlich tief auf seiner bemerkenswert gerade Nase sass, hängen. Er stand ein wenig abseits der Tanzenden, als wäre er sich zu fein, sich mit ihnen zu den Klängen der Geige zu bewegen. Seine Gesichtszüge kamen ihr vage bekannt vor. Wo hatte sie ihn wohl schon einmal gesehen?
„Sie haben vorhin meinen Sohn Mortimer getroffen."

Wie ein Nebelstreifen zogen die Worte durch ihre eigenen Gedanken.
Aber natürlich! Es musste sich also um den Geist von Nathan Crawford handeln, die Ähnlichkeit zu seinem Sohn war eigentlich kaum verkennbar, wenngleich die Züge des jüngeren Mr. Crawford um einiges weicher und freundlicher wirkten, als die seines Vaters.

Rhapsodie in LilienweissWo Geschichten leben. Entdecke jetzt