Alice

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Montag.
Der Stuhlkreis in der Mitte des Raumes, welcher etwas einem Klassenzimmer ähnelte, bestand aus bunten Plastik Stühlen und stillen, in sich zurückgezogenen Teenagern. Keiner wagte es, auch nur ein Wort zu sagen und somit die Stille zu durchbrechen. Zwölf waren sie. Zwölf Jugendliche und eine Erwachsene – sie leitete den Selbsthilfe-Kurs. Sie war gerade dabei, die Anwesenheit der Kinder zu kontrollieren und in eine Liste einzutragen, als sich die Tür öffnete und ein etwas kleineres, blasses Mädchen den Raum leise betrat. Sie schloss die Tür still, mit gesenktem Kopf, hinter sich und brachte ein halblautes »Hallo« zustande. Die Hände in den Ärmeln ihres Kapuzenpullovers versteckt setzte sie sich auf den letzten freien Stuhl und rutschte mit dem Kinn tiefer in den Kragen hinein. Die anderen musterten sie kurz und wandten sich dann Gedanken verloren wieder ab.
»So!« die Betreuerin - sie war vielleicht Mitte zwanzig und hatte ihr blondes Haar zu einem Zopf gebunden - klatschte in die Hände, sodass einige kurz zusammen zuckten und vor Schreck aus ihren Gedanken gerissen wurden. Die Frau hatte ihre gewünschte Aufmerksamkeit.
»Ich glaube 'Herzlich Willkommen' sind wohl nicht die richtigen Worte, um einen Selbsthilfe Kurs zu beginnen. Also möchte ich mich einmal kurz vorstellen. Mein Name ist Annie Porter. Für euch Annie oder einfach nur Ann. Wie ihr wollt. Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt und wohne mit meinem Mann, meiner kleinen Tochter und unserem Hund in einem kleinen Haus ganz in der Nähe. So, nun seid ihr dran. Erzählt doch etwas über euch. Wir fangen bei dir an und gehen die Reihe herum bis sich jeder vorgestellt hat. Ihr braucht euch nicht zu schämen. Hier wird jeder respektiert so wie er ist und niemand ausgelacht! In dieser Runde können wir über alles reden. Jeder von euch hat seine Ängste, Probleme und Schwächen. Doch sollte keiner dafür bestraft werden. Merkt euch das! Nun meine Liebe, mach du doch den Anfang. Erzähl uns deine Geschichte. Wer etwas dazu sagen will hebt bitte die Hand. «
Annie schaute lächelnd in die Runde, doch lachte keiner zurück. Ernste Mienen, hin und her wandernde Augen und nervös spielende Finger waren das einzige, das sie als Antwort bekam.
»Steh doch auf, Liebes.« die Frau legte dem braunhaarigen Mädchen neben sich eine Hand auf die Schulter.
»Ich ... ich bleibe lieber sitzen wenn das okay ist.« flüsterte sie und schaute Annie aus großen glasigen Augen an. Diese nickte aufmunternd. Das Mädchen räusperte sich kurz leise und spielte nervös mit dem Saum ihrer Strickjacke. Das lange braune Haar fiel ihr in sanften Wellen über die Schultern.
»Mein Name ist Alice, ich bin fünfzehn Jahre alt und ich habe Depressionen. Seit zwei Jahren schon, doch seit einem halben Jahr besonders schlimm. «
Alice strich sich ihr Haar hinter das rechte Ohr und schaute auf den Boden.
»Willst du uns die Ursache für deine Depressionen mitteilen? Du weißt, hier wird jeder respektiert. Wir wollen alle mehr über einander erfahren, um uns näher kennen zu lernen und in Erfahrung zu bringen, wie man mit Dingen wie Depressionen umgeht. Also habt keine Angst und erzählt ruhig was euch bedrückt.«
Alice schaute kurz zu Annie und dann wieder zurück auf ihre Hände.
»Also, ich ... Ich wurde gemobbt in der Schule. Hatte wenig Freunde, und wenn, dann waren es nur falsche, die mich ausnutzten. Ich fing mit dreizehn an, mich selbst zu verletzen. Zu schneiden, zu kratzen, zu beißen. Sodass der körperliche Schmerz größer wurde als der seelische. Verherrlichende Foren im Internet machten die Sache nur noch schlimmer. Aber ich fand schnell heraus, dass es dort draußen Leute gab, die mich verstanden. Wenn auch auf eine andere Weise. Und es tat gut. Für eine Weile ...« am Ende wurde ihre Stimme etwas leiser, sie schaute kurz unsicher in die Gesichter der anderen, doch die meisten verzogen entweder keine Miene oder schauten wie Alice auf den Boden.
»Wie gesagt, nur für eine Weile. Denn als meine Mitschüler die Wunden und Narben entdeckten, wurden ihre Hänseleien nur noch schlimmer. Sie schubsten mich in den Gängen hin und her, fragten sogar ob ich mich heute schon geritzt hätte. Da habe ich eines Tages den Entschluss gefasst, mich umzubringen.«
Manche schauten auf und blickten Alice, die nun emotionslos und konzentriert auf einen Punkt auf dem Boden in der Mitte des Stuhlkreises starrte, unverwandt an. Sie schluckte.
»Wir wohnten in einer kleinen Wohnung im fünften Stock, ich und meine Mum. Sie wusste bis dahin noch nichts von meinen ganzen Problemen und ich wollte sie nicht belasten. Es war ein einfaches, die Rasierklingen zu nehmen, anzusetzen und nach unten zu ziehen. Nur blöd, dass meine Mum mich zu früh gefunden hat, nicht wahr? Tja, nun sitze ich hier. In einem Raum mit jemandem, der an meinem Suizidversuch Mitschuld hatte.« sie schnaubte verächtlich, löste jedoch nicht den Blick vom Boden. Einige schauten sich überrascht um.
»Na, fühlst du dich angesprochen? Ich hätte niemals gedacht, dich hier – in einem Selbsthilfe Kurs – wieder zutreffen. «
Ihre Augen funkelten, als sie den Blick hob und den großen blonden Jungen, der neben ihr auf einem grünen Plastik Stuhl saß, fixierte. Er schaute erschrocken zurück und schluckte schwer.
»Also, was ist deine Geschichte?«

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