Tori

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Das Mädchen schreckte aus ihren Gedanken. Es war die kleine Rothaarige, die als Letzte den Raum betreten hatte. »Bitte was?«
Sie wirkte etwas verloren, als müsste sie erst aus einer anderen Welt wieder in die unsere finden, und wischte sich hektisch das dunkelrot gefärbte Haar aus dem Gesicht. Annie faltete geduldig die Hände im Schoß.
»Deine Geschichte, Liebes« erinnerte sie das Mädchen mit ruhiger Stimme.
»Ach ja, 'tschuldigung.« sie räusperte sich kurz und spielte mit ihren Fingern. »Ich heiße Tori und bin sechzehn Jahre alt. Nun ja, so viel gibt es über mich eigentlich nicht zu wissen.«
»Dann erzähl uns das Wenige was es zu hören gibt.« Annie drängte weiter.
»Also gut, ähm, naja. Ich wohne alleine mit meiner Mum. Dad ist als ich klein war abgehauen. Ich bin hier, weil mich meine Mum her geschickt hat. Ich denke, sie war etwas überfordert mit mir. Was ich verstehen kann. Ich habe schließlich in fast jeder freien Minute versucht mir selbst weh zu tun oder abzuhauen. Ich ... Ich weiß nicht wieso. Ich bin einfach traurig und unzufrieden mit mir geworden. Mein Psychologe sagt, ich hätte schwere Depressionen. Ich wollte es jedoch nicht einsehen. Ich fand Gefallen an den Narben, Wunden und dem Blut. Ich weiß, dass das krank klingt. Aber ich bin regelrecht süchtig danach gewesen, mir wehzutun. Am schlimmsten wurde es immer in der Nacht. Ich lebe nun schon seit zwei Monaten hier in der Psychiatrie, da ich immer wieder Rückfälle und teilweise auch Aggressionen hatte.«
Das Mädchen krempelte die Ärmel ihres großen Pullis nach oben und zeigte der Runde die Unterseiten ihrer Arme. Neben ein paar quer über den Unterarm verlaufenden Schnitten, sah man auch Einstichstellen und blau-lila Abdrücke. Einige aus dem Stuhlkreis wandten den Blick ab. Manchen lag ein Ausdruck von Furcht im Gesicht, andere starrten Tori und deren Arme an, die völlig vernarbt und blau gebissen waren. Annie warf ihr einen geschockten Blick zu, der wohl heißen sollte, dass Tori die Ärmel wieder nach unten ziehen sollte. Was sie dann auch tat.
»Es werden bitte keine Wunden oder Narben mehr gezeigt! Wir möchten keinen in der Runde hier triggern.«
Tori ignorierte Annie.
»Ich finde Narben sind nichts, was man verstecken sollte. Jede erzählt eine Geschichte, jede kleinste Narbe hat einen Grund. Auch wenn man manches lieber doch für sich behalten sollte.« sie lächelte unsicher, was jedoch eher nach einer Grimasse aussah. »Tja. Nun bin ich hier«, die rothaarige zuckte mit den Schultern, als wäre es das normalste der Welt und würde sie nicht interessieren. Doch ihre hellen Augen sagten etwas anderes. Ein Junge, zwei Stühle von ihr entfernt, bemerkte es und durchbohrte sie mit seinen Augen.
»Sie lügt.« stieß er leise hervor. »Sie lügt wie gedruckt.«
Annies Stimme klang laut, da zuvor jeder etwas leiser gesprochen hatte, und einige zuckten zusammen. »Was meinst du damit?«
Der Junge schnaubte. »Jeder blinde sieht doch, dass es nur die halbe Wahrheit ist, was Tori da sagt. «
Annie war etwas verwirrt und schüttelte geschockt den Kopf, um wieder klare Gedanken zu fassen. Sie wollte etwas sagen, doch kein Ton verließ ihre Lippen.
»Tori, erzähl uns die Wahrheit!« forderte der schwarzhaarige Junge nun mit selbstsicherem Blick. Tori schaute ihn entgeistert an, den Mund leicht geöffnet und die Augen aufgerissen. Sie schluckte und schaute hilfesuchend auf den Boden.
»Er hat Recht. « ihre Stimme klang plötzlich erstickt und leise. »Ich habe einen Grund. Aber ich habe es noch nie jemandem gesagt, warum all das mit mir passiert.«
»Es bleibt alles in dieser Runde. Keiner wird dich verurteilen oder ärgern. Egal was es ist, wir sind hier um darüber zu reden!« Annie hatte sich wieder gefangen und tat so, als hätte sie die Worte des Jungen nicht gehört.
»Sie wiederholen sich!« schnaubte dieser.
Tori seufzte. »Gut. Also, es fing alles mit dieser Party an. Dort waren nur die angesagten Leute. Also die, die bei allen beliebt waren, die coolsten Klamotten trugen und viel Geld hatten. Ich glaube ihr wisst was für eine Art von Party ich meine. Es waren auch noch ein paar aus anderen Schulen dabei, aber darum geht es nicht. Ich wurde eingeladen. Seit ich meinem Sportlehrer einmal richtig die Meinung gegeigt hatte, war ich irgendwie voll angesagt – mehr oder weniger. Ich wurde sowieso nur ausgenutzt. Nun ja, auf jeden Fall bin ich hingegangen und hatte das erste Mal seit langer Zeit wieder richtig Spaß. Doch es hielt nicht lang an, denn nachdem ich von meinen vermeintlichen neuen Freunden abgefüllt wurde und nicht mehr klar denken konnte, geschah das, was ich niemandem wünsche. Ich habe – völlig unkontrolliert – mich an den heißesten Jungen meiner Klassenstufe rangemacht. Und jeder hat es gefilmt. Tyler, so hieß der Junge, hat mich nur noch mehr bloßgestellt, indem er sich über mich lustig machte. Er sagte Dinge wie 'oh, in dem kleinen Streber steckt ja eine richtige Bitch', oder 'war das schon alles?'. Ich sprang natürlich drauf an – ich war nicht mehr bei klarem Verstand, dafür hatte der Alkohol gesorgt. Als ich am nächsten Tag in die Schule kam, war die Hölle los. Doch am schlimmsten war es, als ich zu Hause meinen Laptop anschalt: das Video war auf Youtube zu sehen. Darunter hunderte von Kommentaren. Keine von der netten Sorte. Nur Hater und Leute, die sich den Arsch abfeierten. Ich wollte schon immer mehr beachtet werden. Aber doch nicht so! Es war das peinlichste, das mir jemals passiert ist.«
Die Stille war unerträglich.
Annie redete auf Tori ein. Doch diese war in einer ganz anderen Welt. In ihrem Kopf spielte sich das Ereignis immer und immer wieder ab. Jedes einzelne Wort, jeder Satz. Alles kam wieder hoch.
Plötzlich ging die Tür auf. Alice steckte den Kopf hinein. Ihre Augen waren verheult und rot, die verwischte Wimperntusche hatte sie zwanghaft versucht zu entfernen. Die Rester klebten ihr unter den Augen.
»Entschuldigung, aber dürfte ich mich bitte abholen lassen« Alice' Stimme klang rau und heißer. Annie nickte und verabschiedete sich. Manche lächelten ihr kurz aufmunternd zu. Doch Alice hatte nur Augen für Sam. Und Sam starrte zurück. Sie flüsterte noch ein »Tschüss« worauf einige antworteten. Doch Sam wusste, dass es nur an ihn gerichtet war. Die Tür fiel ins Schloss und kurz herrschte Stille. Da ergriff der Junge von vorhin wieder das Wort.
»Du warst die jenige aus dem Video?« geschockt hielt er sich die Hand vor den Mund. »Oh mein Gott. Ich war auch auf der Party.«
Tori schaute auf. Panik spiegelte sich in ihren Augen.
»Was?«
»Ich war dabei. Ich ... Ich war selbst sturzbetrunken. Ich habe das Video sofort gelöscht nachdem ich wieder nüchtern war. Und nachdem ...« er schaute schuldbewusst auf den Boden, die Augen genauso weit aufgerissen wie Tori, und schlug sich die Hand vor den Mund.
»Nachdem was?« Tränen ließen die Sicht des Mädchens verschwimmen, ihre Augen brannten.
»Nachdem ich es auf YouTube gestellt habe, verdammt!« rief er und wischte sich übers Gesicht. »Scheiße man, ich war total dicht! Bis oben hin zu! Ich hätte das nie getan, wäre ich nüchtern gewesen! Ich wollte das nicht!«
»Du wolltest das also nicht, ja? « Tori erhob sich und bäumte sich, von der Wut angetrieben, vor ihm auf. »Das wollte ich auch nicht!« schon war sie über ihm und schlug dem erschrocken dreinblickenden Jungen mit der Faust ins Gesicht. All ihre Verzweiflung steckte sie in den Schlag, während sich heiße Tränen einen Weg über ihre Wangen bahnten.
Der Kopf des Jungen flog zur Seite. Annie sprang auf, einige sogen erschrocken die Luft ein oder rutschten mit ihrem Stuhl weg vom Geschehen.
»Stopp! Hier wird niemand verletzt! Stopp! Um Gottes Willen Tori, hör auf!« Annie zog die Rothaarige von dem Jungen weg, der sich versuchte die Nase zu zu halten, aus der ununterbrochen Blut floss, während Tori ihn mit der Faust attackierte und vom Stuhl riss. Endlich ließ sie von ihm ab, ihr Gesichtsausdruck verriet, dass Tori so wütend war, dass sie dem Jungen am liebsten den Kopf abgerissen hätte.
»Tori, was soll das?!« Annie packte sie an den Schultern und zwang sie somit ihr in die Augen zu sehen.
«Er ist an allem schuld! Seinetwegen bin ich jetzt hier in dieser Scheiß Klapse! Seinetwegen hat das alles überhaupt erst angefangen! Nur seinetwegen!«
Tori ließ sich nicht beruhigen. Sie zappelte herum und schrie wie eine Furie, schlug Annies Arme weg. Schließlich zerrte diese sie aus dem Raum, mit den Worten, sie würde Toris Stationsleiterin informieren müssen. Ihre Schreie wurden mit dem Zufallen der Tür gedämpft, bis sie schließlich ganz verstummten. Keiner sagte etwas. Jeder war in Gedanken bei Tori.
Der Junge mit der blutenden Nase stand auf und verschwand ebenfalls, Richtung Toiletten. Ein blondes Mädchen mit schwarzem Kleid stand auf, ging zum Waschbecken, dass sich in einer Ecke des Zimmers befand, und machte ein paar Tücher feucht, um den Boden vom Blut des schwarzhaarigen Jungen zu säubern, der eine Spur hinter sich her getropft hatte. Ein anderes Mädchen mit hohem Pferdeschwanz und Brille half ihr dabei.
»Danke« und »Keine Ursache« waren die einzigen Worte die gewechselt wurden, bis eine verschwitzte Annie wieder zur Tür herein stolperte.

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