Leann

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»Wow.« ein dunkelblondes Mädchen unterbrach die Stille. Sie saß im Rollstuhl neben dem Stuhl, auf dem Ethan bis vor ein paar Sekunden noch saß. Sie war ziemlich abgemagert: ihre Beine so dünn wie die Stuhlbeine und die Arme so knochig, dass die Ärmel ihres Shirts viel zu groß darüber hingen. Sie sah so zerbrechlich aus, wie sie zusammengekauert in ihrem Rollstuhl hockte. Das Mädchen war sehr hübsch, hatte hohe Wangenknochen, die durch ihre Figur noch mehr herausstachen, und große braune Augen. Wie ein Engel, so unscheinbar. Als würde das Mädchen mit dem nächsten Windhauch weggetragen werden.
»Man muss schon ziemlich durchgeknallt sein um zu glauben, man sei von einem Geist besessen.« sie grinste und versuchte die angeschlagene Stimmung etwas zu heben. Einige waren etwas überfordert mit der Situation und starrten sie alarmiert an. Das Mädchen ließ sich davon nicht beeindrucken.
»Kommt schon Leute, wir sitzen hier in einem Gebäude voller irrer Leute und da wundert ihr euch, dass Ethan nicht mehr alle Tassen im Schrank hat?«
Tim nickte. »Sie hat Recht. Hier sind nur verrückte Leute. Ob man es ihnen ansieht, wie Ethan, oder ob sie nur im Inneren gestört sind, wie wir, macht keinen Unterschied!«
»Leann.« korrigierte sie ihn. »Ich heiße Leann. Sag Mal, glaubst du, dass er es war? Ich meine, vielleicht erinnert Ethan sich einfach nur nicht daran, ein Haus abgefackelt zu haben?«
»Du nimmst kein Blatt vor den Mund, oder?« fragte Sam belustigt.
»Ich ziehe es nur vor, zu sagen was mir durch den Kopf geht, anstatt über meine Gefühle zu lügen – nur um andere nicht abzuschrecken. Ich schrecke sowieso andere Leute ab. Allein schon durch mein Aussehen.« sie lächelte, eine Augenbraue nach oben gezogen.
Annie betrat das Zimmer.
»Der zweite heute.« sie ließ sich ausser Atem auf ihrem Stuhl nieder.
»Leann, du bist dran.«
»Sie kennen sie?« fragte Suzette. Leann ergriff das Wort.
»Ich bin seit drei Jahren hier in Behandlung. Wegen meiner Essstörungen. «
»Erzähl doch bitte, wie alles dazu führte, dass du krank wurdest.«
»Also. Ich war noch nie sonderlich 'dick', auch wenn ich das so sah. Ich hatte immer Normalgewicht, war sportlich und beliebt. Aber alles fing damit an, dass ich Ballettunterricht nahm. Ich war ziemlich gut und schaffte es auf eine staatliche Ballettschule, lebte dort in einem Internat und fand schnell Freunde. Aber wie es nun einmal ist, gab es auch an dieser Schule Zicken. Bitches, die eifersüchtig auf dein Können sind und dich deshalb runtermachen. Aber ich muss zugeben: ich war ebenfalls eifersüchtig auf sie. Auf ihre dünne Figur, die schlanken Beine und Arme. Das war schon immer mein Schwachpunkt. Ich wusste zwar, dass ich mir niemals etwas von solchen niveaulosen Zicken sagen lassen würde. Doch als es schlimmer wurde und sie mir meine Schuhe und Trikots zerschnitten, mir Zettel in die Tasche steckten und mich in Zimmern einschlossen, damit ich den Unterricht verpasste; begann mein Selbstbewusstsein zu sinken. Ich wollte perfekt sein. So wie sie. Ich erkannte mich damals garnicht wieder. Ich begann immer weniger zu essen, kotzte nach jeder Mahlzeit das Essen wieder aus und zwang mich in den Ballettunterricht. Auch, wenn mir der Bauch vor Hunger wieder zu weh tat, um auch nur einen Schritt zu gehen. Eines Tages fiel ich im Unterricht um. Ich war so schwach geworden, dass sie mich einliefern mussten. Meine Organe versagten langsam. Ich lag fast einen Monat im Koma. Als ich dann aufwachte, war ich immer noch so schwach, dass ich nicht allein gehen konnte. Ich sitze nun seit zwei Monaten im Rollstuhl. Ich bin noch zu instabil, um allein lange Strecken laufen zu können. Aber es wird. Ich nehme zu. Meine Ballettkarriere ist somit im Arsch, aber ich wäre sowieso nie dahin zurück gekehrt. Ich will jetzt erst einmal gesund werden. Wenn ich euch einen Rat geben kann, dann, dass ihr euch nie von anderen beeinflussen lassen solltet! Bleibt ihr selbst! Auch die stärkste und selbstbewussteste Person kann schwach werden wie ihr seht. Aber versucht es wenigstens und lasst euch von anderen nicht beeindrucken! Lebt euer Leben, nicht das eines anderen!«

scars of the past™ | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt