Sam

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Er starrte sie an, ein Hauch von Reue und Schuldbewusstsein lag in seinen grünen Augen. Ihm wurde urplötzlich heiß, er fuhr sich nervös durch das blonde Haar und rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. Annie schaute die beiden etwas verwirrt an und wartete darauf, dass einer von ihnen etwas sagte. Das braunhaarige Mädchen presste fest die Lippen aufeinander.
»Willst du etwas dazu sagen? « Annie löste die angespannte Situation.
»Ich ähm ... Nun, ja. Also erst einmal, ich heiße Sam und bin sechzehn. Ich ging bis vor kurzen noch mit Alice in eine Klasse, bis sie eingeliefert wurde.« er erntete einen bösen Blick von Alice.
» Und ich glaube es ist an der Zeit sich zu entschuldigen. « Sam schaute auf den Boden. Alice schaute ihn mit zusammengekniffenen Augen an, die Arme vor der Brust verschränkt. Ein blondes Mädchen kaute angespannt an ihren Fingernägeln, ein anderes wiederum fuhr sich immer wieder über die Stirn. Es herrschte Stille im Zimmer. Niemand hätte gedacht, dass es zu solch einer Situation kommen würde.
»Nicht nur für das was ich getan habe, sondern auch für alle anderen, die es auf dich abgesehen hatten. In der Zeit, in der du nicht in der Schule warst, warst du Gesprächsthema Nummer Eins. Und ich meine es ernst - wir sind zu weit gegangen! So weit hätte es nicht kommen dürfen. Aber bevor du mich jetzt unterbrichst oder weiß Gott was mit mir machst, will ich euch den Grund dafür erzählen. Warum ich jeden in der Schule runter mache. Wieso ich überhaupt hier bin. Wieso ich ich bin« Sam meinte es ernst. Wirklich ernst. Alice nickte stumm, sie wusste, dass jeder eine Chance brauchte, um sein Handeln zu erklären. Sie wusste auch, wie es sich anfühlte, wenn niemand einem zuhörte. Annie nickte Sam zu, als Zeichen, dass er anfangen sollte. »Okay Sam. Erzähl uns deine Geschichte. «
Er holte tief Luft, schloss die Augen und legte den Kopf in den Nacken bevor er anfing.
»Es begann schon in der zweiten Klasse. Meine Mum starb kurz nach meiner Geburt, ich lebte also mit Dad allein in einem Haus. Nur, dass Dad nie für mich da war. Er arbeitete ununterbrochen, und wenn er einmal frei hatte, dann verbrachte er seine Zeit in irgendwelchen Bars und Diskotheken. Manchmal geschah es sogar, dass er betrunken nach Hause kam. Dad erwartete von mir - als zehnjähriger kleiner Knirps - dass ich den Haushalt schmiss. Ich putzte, kochte; tat all das, was eigentlich Mums Aufgabe wäre, wäre sie noch am Leben. Doch ich war nie gut genug. Dad schlug mich, wenn ich nicht das tat was er von mir verlangte. Er schlug mich, wenn ich es nicht richtig tat. Und er schlug mich ebenfalls, wenn ich mit schlechten Noten nach Hause kam. Pff, kein Wunder wenn ich, wie seine Bedienung, hin und her rannte und kaum Zeit für die Schule hatte. «
Alice' Blick wurde weicher, ohne dass sie es bemerkte. Doch das Mädchen wagte es nicht, Sam anzuschauen. Sie fühlte sich plötzlich schrecklich elend.
»Als ich älter wurde, wurde es nur noch schlimmer. In der Schule war ich der Klassen Clown, lachte ständig und begann andere fertig zu machen, um den eigenen Schmerz zu überspielen. Ich wollte mich wenigstens in der Schule einmal beachtet fühlen, das Gefühl von Macht spüren. Ich wusste, dass genau das falsch war. Doch ich machte weiter. Alice glaub mir, ich hasste mich Tag für Tag mehr für das, was ich tat. Ich wollte nicht wie Dad werden. Ich habe mich auch verletzt. Ein paar mal. Aber ich fand heraus, dass ich mit ein wenig Alkohol und Drogen sowohl meinen Schmerz, als auch die Wut, besser umgehen konnte. Es tut mir so schrecklich leid!« Sam schaute Alice aus den Augenwinkeln an. Sie lächelte schwach.
»Es ist okay.« sie senkte den Kopf, damit die anderen ihre Tränen nicht sahen. Sam jedoch hatte es bemerkt und presste die Lippen fest zusammen.
»Es ist okay.« flüsterte Alice nochmals. Annie war leicht überfordert. Sie strich Alice über den Rücken und fragte, ob sie kurz zur Toilette wollte. Alice nickte und verschwand aus dem Raum. Sam hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt und das Gesicht in den Händen versteckt. Seine Stimme klang gedämpft durch seine Hände. »Ich kann von Glück reden, nicht abhängig geworden zu sein. Sonst hätte ich jetzt noch viel größere Probleme.« er lachte kurz, doch dieses Lachen wurde durch einen leisen Schluchzer unterbrochen.
Annie räusperte sich.
»Ich finde es gut, dass du ehrlich warst, Sam. Das war sehr mutig von dir. Jetzt wisst ihr wenigstens beide, warum eines zum anderen kam.«
Sam rührte sich nicht. Die Frau schaute die anderen an.
»Will noch jemand etwas dazu sagen?«
Ein etwas mitgenommen wirkender Junge mit schwarzem Haar hob die Hand.
»Ja?« Annie sah auf.
»Ähm, ich wollte nur sagen; meine Mum arbeitet beim Jugendamt. Also falls du willst, Sam, dann ... Dann könnte ich mit ihr über deine Situation sprechen. Also nur, wenn du willst.«
Sam nickte, das Gesicht noch immer in den Händen vergraben.
»Lieber würde ich in ein Heim gehen, als länger bei ihm zu wohnen. « als er den Kopf hob, waren Sams Augen ein wenig rot. Nur mit Mühe konnte er sich die Tränen verkneifen.
»Da gibt es sicherlich auch noch andere Möglichkeiten, als ein Heim. Es wird alles gut Sam, hier hilft jeder jedem. « Annie machte eine aufmunternde Miene. »Wenn du möchtest, kannst du nach der Stunde auch noch einmal zu mir kommen.« Sam antwortete nicht.
»Danke für deine Hilfe. « sie wandte sich an den Jungen, der Sam Hilfe angeboten hatte.
»Machen wir mit dir weiter. Was liegt dir auf dem Herzen? «

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