Theresa

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Das Mädchen, das neben Leann saß, lächelte über ihre Worte. Ihre langen goldbraun gesträhnten Haare wurden in einem unordentlichen Dutt zusammengehalten. Eine herausgefallene Strähne störte sie immer wieder im Gesicht, weshalb das Mädchen oft den Kopf nach hinten schüttelte.
»Dann bin ich wohl die letzte für heute« lachte sie leise, mit zittriger Stimme. »Ich heiße Theresa und bin sechzehn Jahre alt. Ich bin hier, weil ich Zwänge habe. Keine normalen, die jeder Mensch im Alltag hat, wie zum Beispiel schauen ob der Herd aus oder die Wohnungstür zugeschlossen ist. Nein, meine sind ... anders. Meine Psychologin sagt es hängt damit zusammen, dass ich früher von meinem Dad misshandelt wurde. Er schlug mich oft und vergewaltigte mich zwei oder dreimal. Danach fing ich an mich übermäßig viel zu duschen und zu waschen, schrubbte meine Haut so lang, bis sie wund war. Ich wollte mich einfach von all dem reinigen. Am Anfang war es nicht so schlimm. Doch wie gesagt, es war nur der Anfang ... Später duschte ich drei bis viermal am Tag, schnitt meine Fingernägel teilweise so kurz, dass die Fingerkuppen wund wurden und mir die Haare ausfielen, von den vielen Shampoos und Kuren die ich mehrmals am Tag benutzte. Am Ende war meine Haut so trocken und rissig, dass ich ins Krankenhaus musste und mir all diese vielversprechenden Mittel verschreiben ließ. Aber kaum war ich wieder zuhause, ging es weiter. Die Cremes und das ganze andere Zeug landete im Müll. Ihr seht die Verbände hier an meinen Armen.«
Sie krempelte die Ärmel ihres rot karierten Hemdes hoch und entblößte so zwei fast völlig in weißen Verband gewickelte Arme.
»Ich kratzte so lange bis mein Körper voller Striemen und offenen Wunden war. Und es brannte höllisch. Jetzt bin ich hier, um zu lernen, dass es keinen Grund gibt, sich übermäßig viel so säubern und sich die Haut aufzukratzen, weil man denkt der Stoff der Kleidung enthält irgendwelche giftigen Stoffe oder Bakterien. Es ist schwer mit solch einer Krankheit, oder solchen Zwängen, zu leben. Aber ich mache gute Fortschritte. Meine Mum und ich sind mittlerweile ausgezogen und leben nun am anderen Ende der Stadt, weit weg von meinem Dad. «
Sie lächelte, ihre Augen glänzten voller Freude. »Alles wird gut werden, ich weiß es genau.«
Ihre Stimme klang voller Mut und Enthusiasmus.
Annie lächelte.
»Es war ein langer Tag, mit vielen Geschichten und Ereignissen. Und ich finde, es war gut so, einmal darüber zu reden. Wir wollen einander helfen. Doch dazu gehört nicht nur meiner, sondern auch euer Wille. Danke, dass ihr alle eure Geschichte erzählt und somit euren Mut bewiesen habt. Jeder hier hat eine schwere Vergangenheit. Und ich bin bereit, euch eure Zukunft schöner zu gestalten. Ich will, dass es euch gut geht! Danke an euch alle. Bis nächste Woche! Dann werden wir uns Gedanken machen, wie wir uns gegenseitig helfen können. Bitte kommt alle!«
Die Teenager standen auf und zogen ihre Jacken an. Annie hätte ein leichtes Lächeln auf den Lippen, während sie die Stühle in einer Ecke aufeinander stapelte. Plötzlich war es still. Sie drehte sich verwirrt um und blickte in viele Augenpaare, die ihr dankbar entgegen blinzelten.
»Danke, Annie.« sagte Sam und lächelte sie an. Er drehte sich um und ging. Jeder flüsterte ein halblautes "Danke" und verabschiedete sich dann noch einmal von ihr. Annie blinzelte. Tränen sammelten sich in ihrem Augen. Sie war gerührt. Einerseits, weil sie das erste Mal in ihrem Leben angesehen und akzeptiert wurde; und andererseits, weil die Kinder sie an sich selbst erinnerten. Sie war genauso gebrochen wie sie alle. Das konnte sie nicht leugnen. Ihre Vergangenheit war ihr ebenfalls ein Dorn in den Füßen gewesen, der sie nicht hatte weitergehen lassen. Sie steckte immer wieder in den selben Gedanken fest, der selbe Dorn der sie stach. Und sie fragte sich, wann sie ihn endlich entfernen konnte. Wann sie endlich frei sein würde.

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