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Eyesore


Es war warm für einen Märzmorgen, vor allem für einen Morgen im derzeitig unheimlich klischeehaft regnerischen Südengland. Die Sonne hatte sich gerade mühsam über den Horizont gequält. An jenem Tag konnte man sie sogar zur Abwechslung mal sehen, da sie nicht wie in letzter Zeit andauernd von einer dicken Wolkenschicht verdeckt war. Außer dem vom Wetterbericht nicht vorhergesagten guten Wetter, das sich dort anbahnte, gab es in der Kensington Road nichts außerordentliche Ungewöhnlich zu beobachten.

Schicke und scheinbar perfekte Einfamilienhäuser soweit das Auge reichte. Jedoch nur bis zum Ende der Straße, denn dahinter befand sich eine Grundschule, die so gar nicht in das Ambiente der hochmodernen Kensington Road passen wollte. Ein biederer Backsteinbau, überhaupt nicht mit der Zeit und ohne Sinn für Moderne.
Wobei, wenn man diese schreckliche Schule mal außeracht ließ, hätte man denken können, dass das idyllische Straßenbild durch nichts mehr hätte getrübt werden können. Nun ja das ist nicht ganz richtig.
Wie einem nun auffallen könnte, war die Kensington Road gar nicht so perfekt wie man hätte annehmen können. Auch nicht ganz richtig.
Der einzige ›Schandfleck‹ mitten in der Straße, wie ihn die Nachbarn mit angeekeltem Gesicht abfällig betitelten, war ein kleines, grau verputztes Häuschen mit rot-braun gefleckten Dachziegeln.
Auch über die Bewohner des grauen ›Schandlochs‹ wurde ebenso abgeneigt geredet. Wobei man es derzeit schon gar nicht mehr als bloßes Reden bezeichnen konnte.

Jedes Mal, wenn Kailtyln Rosemund und ihr dreißig Jahre älterer Ehemann ihren Pre-Lunch-Spaziergang machten -genau vier Mal die Kensington Road hoch und wieder runter-, fing sie an wie ein Rohrspatz über die Familie aus der Nummer 16 zu schimpfen. Seit kurzem zierte sie sich noch nicht mal mehr, zu warten bis sie und ihr Mann am Haus der Carters vorbeigegangen waren.
Besonders in der letzten Zeit beschwerte sich Kaitlyn Rosemund unnatürlich oft über die Carters.
»Andauernd gehen dort diese zwielichtigen Kerle ein und aus, Harvey, was meinst du treiben die dort? Meinst du, die mischen dort Drogen zusammen oder Tixi und ihre ebenso grauenhafte Tochter bieten besondere Dienstleistungen in ihrer Bruchbude an? Ihnen zuzutrauen wäre es ja.« Während Ms Rosemund die Lästereien gut zu tuen schienen, sah es mit Mr Rosemund nicht ganz so aus. Er verdrehte jedes Mal die Augen, wenn der Name Carter oder die Bezeichnung Bruchbude fiel.

Genau so war es auch an diesem Sonntagmorgen. Kaitlyn war schon wieder mitten im Redefluss. Heute war sie besonders bei der Sache, da es in den letzten beiden Tagen eine ›wilde Party‹, ihren Worten nach, im Hause Carter gab.
Gerade, als sie zu weiteren Erläuterungen ausholen wollte, wurde die türkis-blaue Eingangstür der Nummer 16 und ein kleiner Schwall Teenager kam heraus, alle relativ dunkel gekleidet und mit teil sehr exotischen Haarfarben und Frisuren.
Kaitlyn Rosemund klammerte sich beim Anblick dieser ›Gestalten‹ an den Arm ihres Ehemanns. Harvey Rosemund rollte mit den Augen.
Die blonde Unternehmergattin wollte gerade erneut beginnen über die unverschämt laute Party zu reden, da sie ja jetzt wieder einen triftigen Grund dazu hatte sich zu beschweren. Sie hätte zwei Tage hintereinander nicht schlafen können, murmelte sie. Familie Rosemund wohnte in der Nummer 3 am anderen Ende der Kensington Road und konnte somit gar nichts von dem Lärm mitbekommen haben.
Nur einen kurzen Moment nachdem die Teenager das Haus der Carters verlassen hatten, kam Trixi Carter höchstpersönlich in ihrem himmelblauen Frottébademantel aus dem Haus gerannt. »Keith, wenn du mir noch einmal auf dem Teppich kotzt, kannst du aber etwas erleben!«, schrie sie einem der Jungen wütend hinterher. Besagter Junge ignorierte sie jedoch völlige und lief mit den anderen die Straße, die in Richtung der hässlichen Grundschule führte, runter. Es wäre töricht zu denken, dass eines der Kinder aus der Kensington Road auf besagte Grundschule ginge.

Das Make-Up der alleinerziehenden Mutter war verschmiert und unter ihren Augen befanden sich neben schwarzen Lidschattenresten auch dunkle Augenringe, die von einem schlaflosen Wochenende zeugten. »Guten Morgen Trixi, du siehst ausgeschlafen aus, schönes Outfit außerdem«, begrüßte Kaitlyn sie mit einem gehässigen Grinsen auf dem Gesicht. Ms Carter rieb sich müde über die Stirn, verzweifelt versuchend ein Gähnen zu unterdrücken, um sich vor Kaitlyn Rosemund keine Blöße zu geben. »Danke Kate, ich wollte mal etwas Extravagantes ausprobieren«, sie schaute nach unten auf den Frotteebademantel unter dem sie eine zerrissene lila Feinstrumpfhose, zwei verschieden lange und zudem auch noch verschiedenfarbige Socken und nur einen Hausschuh trug, »netter Facelift übrigens.« Mit diesem Worten hob sie eine der Chipsverpackungen auf, die auf dem kleinen Vorgarten lagen auf und marschierte erhobenen Hauptes zurück ins Haus. Mit Schwung knallte sie die blaue Eingangstür hinter sich zu, welche jedoch kurz darauf von alleine wieder aufging.

An diesem Sonntagmittag gingen die Rosemunds nicht viermal die Kensington Road entlang, was gar nicht in die Natur der stets alles nach Plan durchführende Kaitlyn Rosemund passte.
Auf dem direkten Rückweg zur Hausnummer 3 wären Harvey Rosemund vom vielen Augenverdrehen fast die Augäpfel aus dem Gesicht gefallen.

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