Nears Gedanken

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Allein. Das war das erste, was ihm durch den Kopf schoss. Die Haare auf seinen Armen stellten sich auf und er fing an zu zittern. Seine Atmung wurde unregelmäßiger, bis sie zu einem Keuchen wechselte. Nun bin ich ganz allein. Near saß immer noch auf dem kalten Boden des Lagerhauses, in dem vollkommene Stille herrschte. Niemand sagte ein Wort, jeder war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt. Der Weißhaarige schaute sich unauffällig um, ohne dabei den Kopf zu heben. Der Boden war mit Blut übergossen, ein rot schimmernder Handabdruck prangte an der Wand am Hinterausgang des Lagerhauses. Near fragte sich, wie weit Kira, oder besser gesagt Light Yagami, wohl kommen würde. Niemand konnte so viele Schusswunden überleben. Der Massenmörder hatte endlich bekommen, was er verdient hatte. Oder doch nicht? Durfte ein Mensch überhaupt so denken? Niemand hat jemals den Tod verdient, egal was er getan hat. Auch kein grausamer Massenmörder, der der Meinung war, wie ein Gott über die Welt herrschen zu dürfen. Der Annahme war auch L gewesen...
L. Sein Vorbild. Der einzige, der ihm je etwas bedeutet hat. Der sein Leben bestimmt hat. Die ganze Zeit hatte sich Near immer nur nach ihm gerichtet. Er hatte versucht, genauso zu sein wie er. Besser zu sein. Aber er hätte es alleine nie schaffen können. Das war ihm mehr als bewusst. Erst mit Mello war er in der Lage gewesen, den besten Detektiv der Welt zu übertreffen. Er hatte es geschafft, Kira zu entlarven und handlungsunfähig zu machen. Endlich war es vorbei. Er hatte für ihn gesiegt. Near hatte für L gesiegt.
Obwohl Near triumphiert hatte, war er alles andere als zufrieden. Er fing an noch stärker zu zittern und konnte es nicht länger verstecken. Plötzlich musste Near an all die Opfer denken, die ihr Leben für diesen Fall hatten geben müssen. L. Matt und Mello. Fast seine gesamte Crew. Sie waren alle von Kira umgebracht worden, ohne etwas Böses getan zu haben. Sie waren nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. So viele Menschenleben.
Near verspürte plötzlich einen stechenden Schmerz in der Brust und presste seine zur Faust geballte Hand darauf. Solche Gefühle hatte er noch nie gehabt und sie warfen ihn aus der Bahn. Near schnappte hörbar nach Luft und ein paar Leute, die ebenfalls in der Lagerhalle waren, drehten sich verwundert zu ihm um. Der Weißhaarige starrte mit großen Augen auf den Boden; er spürte, wie seine Gesichtsmuskeln sich schmerzhaft zusammenzogen. Was war das? Etwas Feuchtes lief ihm die Wange herunter...weinte er etwa? Mit zitternder Hand berührte Near seine blasse Wange und betrachtete diese. Sie glitzerte feucht und ein kleiner Tropfen bildete sich an seiner Fingerkuppe und löste sich schließlich, um zu Boden zu fallen. Wie der Weißhaarige so dasaß, sah er schon sehr seltsam aus. Ein Junge, der seine Träne ansieht, als hielte er sein eigenes Auge in der Hand. Als der Tropfen auf dem kalten Boden verblasste, fing Near an sich langsam zu rühren. Er beugte sich vor und legte die Handflächen auf den Boden, um vorwärtskrabbeln zu können. Zuerst zögerte er und tat jeden Schritt mit Bedacht, danach wurde er schneller. Als er fast bei der offenen Tür angekommen war, sprang er auf die Beine und richtete sich auf. Dies hatte er schon sehr lange nicht mehr getan und es fühlte sich seltsam an.
So schnell er konnte, sprintete Near los und stolperte durch den Ausgang hinaus ins Freie. Der Junge hatte nicht vor, Kira zu folgen, dessen Blutspur deutlich auf dem Boden zu erkennen war. Er hatte ein ganz anderes Ziel. Während er lief, fielen ihm Tränen vom Kinn und bedeckten seine Lippen. Er schmeckte Salz und Wasser auf der Zunge. Ohne sich umzudrehen, wusste Near, dass die Blicke der anderen auf ihm lagen. Er spürte sie deutlich in seinem Nacken. Sobald er aus ihrer Sichtweite verschwunden war, entspannte er sich ein wenig und beschleunigte sein Tempo. Es fühlte sich unglaublich gut an, seine Energie und Kraft endlich mal wirklich zu benutzen. Near legte seine ganzen Emotionen in die Bewegungen seines rennenden Körpers und sie trieben ihn an und ließen ihn nicht erschöpfen.
Es dauerte eine ganze Weile, bis sein Zielort endlich in Sichtweite kam, aber Near hatte keine Probleme damit gehabt, den Weg zu finden. Schnell atmend bog er in eine Gasse ein und blieb dort jetzt doch ziemlich erschöpft stehen. Er blickte sich um, um sicherzugehen, dass niemand ihm gefolgt war, und trottete dann langsam auf ein Tor zu, das von Eisenzäunen eingeschlossen war. Dahinter lag ein Friedhof. Er sah so unbedeutend aus, ein Friedhof von tausenden in Japan, doch für Near hatte er eine ganz besondere Bedeutung.
Auf diesem Friedhof war L begraben. Nach weniger als fünf Minuten hatte Near dessen Grabstein gefunden, der sich bei genauerem Hinschauen deutlich von allen anderen unterschied, und zwar genau in einer Sache. Auf dem großen Steinkreuz stand kein Name. Auch kein Geburts- oder Todesdatum. Es stand einfach rein gar nichts darauf. Near war sich absolut sicher, dass dies wirklich Ls Grab war, auch ohne Namen. Es passte perfekt zu ihm. Schlicht aber dennoch geheimnisvoll. Und am wichtigsten: Anders.
Auf der lockeren Erde vor dem Grabstein war nichts gepflanzt oder dekoriert. Nicht einmal Unkraut ragte aus dem weichen Boden. Als der Weißhaarige sich vor dem Kreuz niederließ, fiel sein Blick auf leichte Abdrücke in der Erde. Es sah aus, als hätte dort jemand gekniet. Auf Anhieb fiel Near nur einer ein, der so etwas tun würde, und bei dem Gedanken erschauderte er. Also hatte Kira L sogar an seinem Grab besucht. Dieser Mistkerl, dachte er. Light Yagami hatte es sogar gewagt, L bei seiner Totenruhe zu stören und seine Würde zu verletzen, als es schon längst vorbei war.
Near hockte sich so auf den Boden, wie der Meisterdetektiv es selbst immer getan hatte, und schlang die Arme um seine Knie. Angeblich sollte man so besser denken können, als wenn man anders säße. Doch davon spürte Near in diesem Moment nichts. Vielleicht lag das daran, dass der Weißhaarige gerade an gar nichts dachte. Er ließ seiner Fantasie freien Lauf und alle möglichen Erinnerungen überströmten ihn. Bilder tauchten vor seinem inneren Auge auf. Ein schokoladeessender Mello, der ihn wütend anstarrte. Ein rothaariger Junge mit einer Zigarette in der Hand, Matt. Ein älterer Mann, der ihn liebevoll ansah. Es war der Partner von L, Quillish Wammy oder auch einfach Watari. Er war für Near genauso ein Vater gewesen wie für L. Noch eine wichtige Person, die Near verloren hatte.
Und da waren die Gedanken wieder. Allein. Near hatte nun absolut niemanden mehr. War es überhaupt fair, dass er als einziger diesen Fall überlebt hatte? Der weißhaarige Junge schüttelte heftig den Kopf, um die Gedanken loszuwerden. Ein Beben durchfuhr seinen Körper und er biss sich fest auf die Lippe, um ein aufkommendes Schluchzen zu ersticken.
Einige Minuten verweilte er in dieser gekrümmten Haltung, bis die Tränen schließlich ihren Weg fanden und, nachdem sie von dem blassen Gesicht getropft waren, das Grab des besten Detektiven der Welt benetzten.

Oneshots zu Death NoteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt