3. Eine Studie in Knallorange

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»Das, meine Herren, ist einer der Brutherde des Unglücks«, sagte ich mit reichlich Pathos in der Stimme und ließ die drei das, was da auf meinem Bildschirm erschienen war ausdrücklich inspizieren.

»Und was sollen wir da nun sehen?«, fragte Duden mich.

»Das hier ist erst die Startseite. Von hier aus kann man sich ein Genre auswählen. Dann werden einem Bücher«, (ich ahmte mit meinen Fingern Anführungszeichen nach, als ich »Bücher« sagte), »vorgeschlagen, die diesem zugeordnet wurden und dann sieht man meist schon an den Klappentexten, wo das Problem liegt. Oder eher gesagt die Probleme.«

»Und diese Bücher stehen einem zur freien Verfügung?« Herr Dudens Naivität diesbezüglich brachte mich ein wenig zum Schmunzeln.

»Es sind keine lektorierten Bücher. Sie werden geschrieben und hier hochgeladen, meist ohne weitere Korrektur. Eine Qualitätskontrolle - oder wenigstens eine Gruppe an Mitarbeiter, die unanständige Werke löscht - sucht man hier leider vergebens.«

»Ich verstehe...«, murmelte Duden, starrte weiterhin auf die in Müllabfuhrfarben gehaltene Startseite und ich glaubte, er hatte noch nicht verstanden.

War ja auch irgendwie verständlich, denn immerhin war der Mann seit 105 Jahren tot und hatte nicht einmal den ersten Weltkrieg miterlebt. Und was Goethe anbelangte, glaubte ich sowieso einen hoffnungslosen Fall vor mir (bzw. momentan hinter mir) zu haben. Aber meine Verzweiflung hatte ich jetzt so weit getrieben und ein Goethe mit einem Knacks weg war womöglich abschreckender für die Badfic-AutorInnen als ein beherrschter Reich-Ranicki, dessen logische Argumentation sie gekonnt ausblenden würden. Was das anging, hatte ich ja schon eigene Erfahrungen gemacht.

Eine Frage stellte sich mir allerdings noch, bevor ich die Drei in das Konzept der Literaturhölle einführen konnte: Welches Werk präsentierte ich ihnen als erstes? Vielleicht wäre es ja doch besser, ihnen erst einmal Schund aus meinem Bücherregal zu präsentieren, damit sie eine bessere Vorstellung davon hatten, welche Tragweite die Problematik mit sich brachte. Andererseits würde ich mich dann dafür verantworten müssen, dass ich solche Bücher besaß. Nein, es war wohl der Zufall, der entscheiden musste. Oder die Herren selbst.

»Ein Werk aus welcher der Kategorien soll ich Ihnen als erstes zeigen?«, fragte ich in die Runde.

»Ich kann kaum erkennen, was dort geschrieben steht«, beschwerte sich überraschenderweise Goethe. Und er hatte ja Recht. Daran, dass unsere Druckschrift ihm fremd war, hatte ich gar nicht gedacht.

»Bedeutet das dort Poesie?« Er deutete mit seinem geisterhaften Finger durch mich hindurch auf das Wort Poesie.

»Ja, das heißt es.« Bitte sagen Sie mir nicht, dass sie etwas daraus lesen wollen. Das wird Sie direkt ein zweites Mal umbringen. Obwohl der Schock vielleicht gar nicht so schlecht wäre, um ihn endlich aus der Reserve zu locken.

»Dann zeigen Sie doch mal die lyrischen Ergüsse Ihrer Generation«, forderte nun Reich-Ranicki mit reichlich Hohn und polnischem Akzent in der Stimme.

Seufzend bewegte ich den Mauszeiger auf »Poesie« und drückte die linke Taste. Die erste Pforte war durchschritten. Jetzt ging es daran, die zweite zu durchqueren und sich ein Werk auszusuchen.

»Die Lyrik ist hier wohl eindeutig Goethes Profession«, sagte ich und hoffte, dass er mir nicht übelnahm, nur beim Nachnamen genannt zu werden. War eben eine alte Gewohnheit. Vielleicht sollte ich ihn fragen, ob ich ihn Johann nennen konnte. Oder Wolfi, wenn er seinen Zweitnamen präferierte. »Will er sich eines aussuchen?«

Goethe hatte das offensichtlich als direkte Ansprache seiner Person genommen, denn in seiner Zeit war das mit der dritten Person teils üblich gewesen. Zumindest hatte ich das so in Erinnerung. War ja auch egal, denn immerhin war der Autor aus seiner Apathie erwacht.

»Ich wähle dieses«, meinte er nach nur wenig Bedenkzeit und zeigte prompt auf ein Cover, auf dem die Überschrift »Freiheit« prangte. Dann wollte ich doch mal hoffen, dass es im Kopf des Autors nicht so stürmte und drängte wie es das bei Goethe selbst getan hatte und ich die perfekte Gedichtsammlung hatte, um aufzuzeigen, welche Undinge hier geschahen und kommentarlos (nun, eigentlich gar nicht kommentarlos, denn der meiste Schrott wurde ja unbedacht bis in den Himmel gelobt) hingenommen wurden.

Der erste Part war ein Vorwort und wurde von mir übersprungen. Wir wollten uns ja nicht noch ewig aufhalten und endlich mal zur Sache kommen. Also ich natürlich, denn es war meine Seele, die hierfür fast draufgegangen wäre. Wenn ich sie nicht eh schon durch die Nutzung der App so sehr verstümmelt hatte, dass sie wertlos war.

Das erste Gedicht, war kaum als solches zu bezeichnen. Ich nahm mir die Freiheit, es vorzulesen, da Goethe sonst vermutlich Ewigkeiten benötigt hätte. Der genaue Wortlaut tat nichts zur Sache, denn er war ohnehin unbedeutend und frei von jedem Sinn. Es war das Urteil meiner Jury, das hier zählte.

»Dieser Text lässt Metrum und Reim vermissen«, begann Goethe. Die Spannung stieg ins unermessliche. »Die Anspruchslosigkeit der Sprache erzürnt mich nahezu, jedoch macht die Essenz es wieder gut.«

»Sie meinen den Inhalt?«, hakte ich skeptisch - nein, eher aufs Ärgste schockiert - nach.

Er nickte und ich fiel aus allen Wolken. Dass auf den kein Verlass war... Unglaublich. Zwölf Jahre Schulbildung für die Katz.

Er nickte, während Reich-Ranicki irgendwas von »Humbug« murmelte. Genau genommen war das gar ein Gemurmel, denn es war ziemlich gut hörbar, aber er hatte es sicher als solches beabsichtigt und sich nur nicht zurückhalten können.

Duden hatte nichts gesagt, aber ich wollte auch nicht weiter nachfragen, aus Angst, er könne ebenfalls von dem leeren Inhalt angetan sein. Deswegen ging ich weiter im - bzw. in einen anderen - Text. Jetzt durften sie sich auf das Schlimmste gefasst machen.

Die Geister, die ich riefWo Geschichten leben. Entdecke jetzt