Chapter One

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"Und nun kommen wir zu dem Moment, auf den wir alle sehnsüchtig gewartet haben." verkündete die trällernde Stimme von Rosie Wisconsin und wie immer wenn sie das sagte, spannte sich alles in mir an und ein kalter, brennender Schauer durchfuhr meinen Körper. "Unser weiblicher Tribut für Distrikt 1 ist..." Ihre langen Finger wanderten in die mit Zetteln gefüllte Kugel aus Glas und schnappten sich den ersten Zettel, den sie zu fassen kriegten. Stille entstand. Jeder wartete angespannt auf ihre Worte. Heute würde sich entscheiden, wer in die Arena geschickt wird und wer ein weiteres Jahr verschont bleiben würde. Ich schloss die Augen und ballte meine Hände zu Fäusten. "Lilianne Parker." ertönte der Name des Mädchens knarzend aus den Lautsprechern und ich wagte es erleichtert auszuatmen. Das Mädchen neben mir hingegen wurde bleich wie eine Leiche und fing an unkontrolliert zu zittern. Sie war es. Sie war Lilianne Parker. 

Mit zitternden Schritten trat das Mädchen vor und erklomm die Treppen. Verdammt! Das hätte ich sein müssen! schoss es mir durch den Kopf und ich drehte mich weg, um ihr nicht länger zusehen zu müssen. Dieses Mädchen war eindeutig kein bisschen kampferfahren. Sie war schwach. Ich gab ihr fünf Minuten in der Arena bevor sie tot war, vielleicht zwei Stunden wenn sie schlau war und sich nicht in das Gemetzel am Füllhorn einmischte. Mein Blick huschte über das Publikum und traf den eines alten Mannes, mit einer langen Narbe, quer durch das Gesicht. Seine Augen waren von einem kühlen blau und ich hätte am liebsten weggesehen, wenn ich nur könnte. Doch ich konnte nicht und so, sah ich das Nicken in Richtung Tribüne und wusste, dass das die Auforderung dazu war mich freiwillig zu melden. Kaum merklich schüttelte ich den Kopf, doch er gab nicht nach und nickte erneut in dieselbe Rchtung. "Nein!" wollte ich schreien, "Nein, ich bin noch nicht bereit dazu." doch ich durfte es nicht. Er war mein Chef. Mein Trainer. Ich sah wieder auf die Tribüne und sah wie das Mädchen sich verzweifelt in ihrem eigenen Kleid festkrallte. Sie hatte verdammt viel Angst. Zeig Stolz, Mädchen dachte ich mir, beweis ihnen, dass mehr in dir steckt als alle denken! Sie sollte uns überraschen. Meinen Trainer dazubringen, es sich anders zu überlegen, aber sie tat es verflucht nochmal nicht. 

Rosie Wisconsin hatte währenddessen einen weiteren Zettel gezogen und las ihn nun vor. "Peeta Fray." schrie sie ins Mikrofon und ich schnaubte verächtlich. Heutzutage benannte jeder seine Kinder nach Katniss Everdeen und Peeta Mellark. Die Beiden wurden als Helden gefeiert, dabei waren sie kein Stück besser als das Kapitol. Ich wollte gerne daran glauben, dass es anders war, aber das war es nicht. Die Hungerspiele existierten immernoch. Es gab Hunger und Not. Und auch wenn die Beiden sich in Distrikt 12 zurückgezogen hatten, wurde die Welt von grausamen Menschen regiert. Im Stillen dankte ich meinen Eltern dafür, dass sie mich auf den Namen Clove getauft hatten. Es war zwar der Name eines toten Tributs aus Distrikt 2, aber es war immernoch besser als Katniss zu heißen.

Ich kniff die Augen zusammen und versuchte wieder mich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Gleich würde sich die Moderatorin nach Freiwilligen erkundigen und dann müsste ich mich melden. Ein Teil von mir war überzeugt davon, dass es Selbstmord war, ein anderer wartete nur darauf, den anderen Tributen die Kehle aufzuschlitzen. Ich hasste diesen zweiten verbitterten Teil in mir, aber ohne ihn, wäre ich schon längst tot. "Gibt es Freiwillige, die sich für einen der Tribute einwechseln lassen wollen?" erkundigte sich Rosie und blickte in die Menge. Die Miene des Mädchens wirkt mit einem Mal hoffnungsvoll. Sie wusste, dass es in Distrikt 1 keine Seltenheit ist, dass sich Freiwillige melden. Das hat sich auch nach der Rebellion nicht geändert. Der Junge hingegen starrte weiterhin über unsere Köpfe hinweg Richtung Himmel. Ich konnte nicht anders und musterte ihn ein zweites Mal. Er war offensichtlich nicht Peeta Mellark. Bis auf den Namen verband die Beiden rein gar nichts. Groß, schlank, atlethisch gebaut und dunkelbraunes Haar. Das genaue Gegenteil von seinem Namensvettern. Ich grinste, vielleicht irrte ich mich in ihm. Vielleicht würde er mir noch ein guter Verbündeter werden.

Entschlossen hob ich die Hand "Ich melde mich freiwillig!" rief ich laut und augenblicklich drehten sich alle Köpfe in meine Richtung. Auch der Blick des Jungen ruhte nun auf mir. Ich konnte so etwas wie Anerkennung in seinem Blick erkennen. Er dachte ich meldete mich aus Mitleid. Alle dachten das. Sie waren so naiv. So etwas taten nur Helden aus Märchenbüchern. Ich konnte schon praktisch hören, was die Menschen dachten. Sie sahen mich, ein mittelgroßes, schlankes Mädchen mit aschblonden Haaren und grauen Augen. Einen hoffnungslosen Fall, der sich freiwillig anstelle eines anderen hoffnungslosen Falles meldete. Und sie alle hatten ihr Bild vor sich. Katniss Everdeen. Das Mädchen, dass sich vor sieben Jahren anstelle ihrer Schwester gemeldet hatte. Damals war sie 16 gewesen, also so alt wie ich jetzt, und nun, erkannten sie alle in mir wieder. Dabei lag mir rein gar nichts an diesem schwachen Mädchen, das da vor mir auf der Bühne stand. Sie war bloß ein Mädchen, wie jedes andere. Kläglich und wehrlos. Ich hingegen hatte Chancen dieses Ding zu gewinnen.

Die Menschen vor mir traten zur Seite und erlaubten mir hindurch zu gehen. Darauf bedacht einen möglichst gleichgültigen Gesichtsausdruck zu bewahren, näherte ich mich der Tribüne und erklomm die Stufen. Damals vor sieben Jahren, hatte es ein ähnliches Bild gegeben. Katniss Everdeen, wie sie entschlossen auf die Tribüne zuging, um ihre Schwester zu verteidigen. Entschlossen...dass ich nicht lache! Sie hatte Panik! Dieses Mädchen hatte noch nicht einmal Zeit zum Nachdenken gehabt! Nein, ich war anders als Katniss Everdeen. Ich war schlau, ich konnte kämpfen und ich war ein Meister der Täuschung. Man konnte mich nicht mit jemandem wie Katniss vergleichen. Das wäre falsch. Das wäre naiv! Doch das waren die Menschen nun einmal. Sie waren verflucht nochmal naiv!

Oben auf der Bühne angekommen, nahm Rosie mich in Empfang. "Wie ist dein Name, Schätzchen?" Schätzchen!? "Clove Felton" erwiederte ich fest und sah über die Reihen hinweg zum Rand des Publikums. Mein Trainer nahm meinen Blick entgegen. Ich konnte den alten Mann sein zahnloses Lächeln lächeln sehen und gleich neben ihm stand mein zukünftiger Mentor, Ethan Mahone. Er war der Gewinner der 79th Hungerspiele und er war genau wie ich von meinem Trainer ausgebildet worden, um irgendwann einmal unerwartet zu siegen. Als er in die Arena kam war er achtzehn, also zwei Jahre älter als ich. Dafür hatte er aber später angefangen zu trainieren. Ich hatte angefangen, als ich gerade mal fünf Jahre alt war. Als meine Eltern gestorben waren und ich ins Heim kam. Es war mein einziger Weg in eine sichere Zukunft gewesen. Waisenkinder gingen für gewöhnlich unter in diesem Distrikt. Hier kümmerte sich niemand um sie. Sie hatten ein Heim und einen Aufpasser. Das wars. "Reizend. Sehr reizend. Willst du uns erzählen, was dich dazu bewegt hat für Lilianne einwechseln zu lassen?" ertönte Rosies Stimme plötzlich und riss mich aus den Gedanken. "Sie hätte keine Chance gehabt." erwiderte ich ausweichend und blickte auf einen der Bildschirme, die mich anzeigten. Ich sah unschuldig aus. Trug eine hellblaue Bluse, enge Jeans und dunkle Stiefel, die sich geschmeidig um meine schlanken Waden schmiegten. "Und du denkst, du hättest Eine?" fragte Rosie und musterte mich aus ihren blaubewimperten Augen, während sie mir ein Mikrofon unter die Nase hielt. "Ich passe." antwortete ich abweisend und blickte zu Boden. Niemand sollte erkennen, was hinter meiner Fassade steckte.

"Nun denn, dann mögen sich die Tribute der diesjährigen Hungerspiele die Hände reichen und sich fröhliche Hungerspiele wünschen." forderte Rosie uns auf und lächelte übertrieben in die Kameras. "Aufregend nicht wahr? Es ist immer wieder aufregend eine Freiwillige zu haben." Ich wandte mich ab und sah zu Peeta, dessen Blick ebenfalls auf mich gerichtet war. "Fröhliche Hungerspiele." sagte ich und reichte ihm meine Hand "Fröhliche Hungerspiele, Clove Felton." erwiderte er langsam und drückte sie. 

Melting Snow (The Hunger Games FF)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt