Kapitel 4

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Als ich mir das immer wieder einredete, dass ich hier von diesem so harmlos aussehenden jungen Mann entführt und hier eingesperrt wurde, drehte ich mich entschlossen von ihm weg und schwieg.

Ich stand auch seitdem nicht mehr auf, da es immer noch zu anstrengend war und bewegte mich so wenig wie möglich. Ich trank die Cola und aß die Kekse, wenn ich es brauchte und tat sonst so, als wäre ich nicht da. Ich war mir sicher, das würde die beste Strategie sein. Ich sparte einerseits Kraft und Energie und andererseits machte ich mir keinen unnötigen Ärger mehr.

Die ganze Zeit dachte ich daran, dass man mich schon bestimmt vermissen würde, da ich nicht ans Handy ging und sonst nicht erreichbar war, aber was würde ne das nützen?

Selbst wenn sie mich als vermisst meldeten und die Polizei einschalteten, gäbe es keine Spur die zu dieser Wohnung führte. Es war so spät in der Nacht, dass uns bestimmt niemand mehr gesehen hat und ich war sicher, dass sie mich ohne Hinweise nie finden würden.
Mir blieb also nichts anderes übrig als abzuwarten, bis er mich endlich gehen ließ.

Den Rest des Tages schwiegen wir uns an und ebenso vermied ich jeden Blickkontakt. So stark und mutig ich in der ersten Nacht war, mich zu widersetzen und zu wehren, so verängstigt rollte ich mich jetzt auf der Couch zusammen und hoffte, dass ich nie wieder verprügelt werde und dass diese Hölle für mich bald vorbei war.

Durch die Schmerzen, die mich immer noch plagten, war ich so erschöpft, dass ich früher einschlief als gewöhnlich und wiederliebte in meinem Traum alles noch einmal.
Die Flucht, die Schläge, das Nichts.

Ich wachte auf, als ich mir meine Hand am Tisch anschlug und ich vor Schmerz aufzuckte.
"Au, shit!" rief ich aus und mein Blick fiel auf den Lockenkopf, der mir wieder gegenüber saß und eine Augenbraue hob.

"Alles okay. Nichts passiert." sagte ich eher zu mir selbst, denn ihn wird es sicher egal sein, ob ich mir gerade die Hand gebrochen habe oder nicht.

Er nickte nur und widmete sich dann wieder seinem Handy.
Ich setzte mich auf und versuchte, meine Haare so gut wie möglich zu entwirren und zu einem Zopf zusammen zu binden.

Ich hatte ziemlichen Hunger und mein Mund war trocken, doch ich traute mich nicht nach Essen zu fragen. Die Kekse hatte ich alle am Tag davor aufgegessen und die Cola war auch leer.

Bei dem Gedanken an die Kekse knurrte mein Magen so laut, dass sogar der Lockenkopf aufsah. Ich senkte meinen Blick und versuchte, die ein weiteres Magenknurren zu unterdrücken, aber es half nichts.

Beim zweiten Mal stand er seufzend auf, verschwand kurz in der Küche und kam wenig später mit einer Packung Milch, einer Banane und einer Brezel zurück.

"Ich habe leider keine frischen Brezeln mehr, aber ich komme auch nicht zum Einkaufen."  sagte er und überreiche sie mir.
"Danke." sagte ich und biss genüsslich hinein, auch wenn sie schon ziemlich hart war und ich sonst nur Joghurt mit Früchten zum Frühstück aß.

"Hör mal, ich halte dich hier zwar fest, aber du sollst mir hier nicht verhungern. Wenn du was essen oder trinken willst, sag es einfach, dann hol ich es dir."

Seine Stimme klang ungewohnt freundlich und jagte mir zum ersten Mal keine Angst ein.
Wollte er mich vielleicht gar nicht hier festhalten? Aber warum war ich dann hier?

Stockholm Syndrome h.s ✅Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt